Jürgen liest: Stefan Heym – Nachruf

Als „Perversion“ zeigt sich die Welt beim Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, als „ein Zerrbild dessen, was sie zu sein vorgab“. Dies ist ein Schlüsselsatz im „Nachruf“ (München 1988/Berlin 1990) von Stefan Heym, ein Werk, das keine Gattungsbezeichnung trägt, weder Roman noch Autobiografie.

Wenn die Welt pervers ist, dann ist auch nur noch ein Leben im Schein möglich – oder im Kampf gegen ihn. Stefan Heyms Leben ist ein permanenter Kampf gegen Unvernunft und besonders gegen vernunftlose Obrigkeiten. Nachdem er den USA aus Protest gegen den Korea-Krieg unwiderruflich den Rücken gekehrt hat, findet er mit viel Glück und Mühe letztlich in der DDR einen Staat, der ihn aufnimmt; mit einigem Widerwillen seinerseits, nicht des Sozialismus wegen, sondern weil die Rückkehr in einen deutschen Staat das Letzte war, was er eigentlich angestrebt hat.

Heym ist linker Sozialist und legt sich mit der DDR-Führung an, der er vorwirft, die 1956 mit dem 20. Parteitag der KPdSU in der Sowjetunion begonnene Entstalinisierung nicht ähnlich konsequent wie Chruschtschow in Angriff genommen zu haben. Als es am 17. Juni zum Aufstand kam, wurden bei ihm die Erinnerungen an die Ardennenschlacht von 1944 wachgerufen, als deutsche Verbände die alliierten Frontlinien durchbrachen und Panzer mit Balkenkreuz in Hörweite des US-Sergeanten Stefan Heym durch die Straßen rasselten. Viel hätte nicht gefehlt und er, der mit großem Glück aus Deutschland über Prag nach Amerika flüchten konnte, wäre kurz vor Ende noch in die Hände der Nazis gefallen. Die wenige Wochen zuvor geschlagene Schlacht im Hürtgenwald überlebten auch die traumatisierten Schriftsteller Hemingway („Über den Fluss und in die Wälder“) und Salinger („Der Fänger im Roggen“) nur knapp. Diese Angst während der Ardennenoffensive, die Heym „nie wieder zu verspüren wünschte“, fuhr ihm am 17. Juni „in die Glieder“. Auf der anderen Seite zeigten sich in diesen Ereignissen aber auch demokratische Bestrebungen gegen eine als willkürlich und diktatorisch erfahrene Politik der DDR-Regierung. In seinem Roman „Fünf Tage im Juni“ (München 1974/Berlin/DDR 1989) stellt Heym die Perversion der Welt als zutiefst widersprüchliches Ineinander von barbarischen und humanen Zügen dar.

Für den Leser heißt dies, sich „frei von Vorurteilen“ tragen zu lassen „vom Fluß der Erzählung“ und mit den erzählten Personen mitzugehen, um das „einander ergänzende Ja und Nein“ zu begreifen. Ein dialektisches Erzählen erfordert ein ebenso dialektisches Lesen; da behaupte noch jemand, Literatur verändere nicht die Wirklichkeit des Lesers.

Man kann sagen, dass die Romane und Erzählungen Heyms Vorstudien und -arbeiten zum Hauptwerk „Nachruf“ sind, in dem er das Gewebe seines Lebens zwischen frühester Kindheit und den Umbrüchen am Ende der Achtziger Jahre aufdröselt. Die „Totale“ des Geschehens wird mit Leib und Seele einer einzelnen Person erzählt, die „sie abrollen sah vor den eigenen Augen“. Dabei spaltet der Erzähler sich auf in die damalige Person (mit den Initialen „SH“ bezeichnet) und die Person, die sich an ihr eigenes Leben zu erinnern versucht. So entsteht eine doppelte Spiegelung der Vergangenheit, „die teuflische Verschachtelung von fiction und fact“. Außerdem verfügt Stefan Heym auch noch mindestens über zwei Identitäten, da SH ein Nome de guerre für den Geburtsnamen Helmut Flieg ist.

Erschwerend kommt hinzu, dass Heym, anders als zum Beispiel Thomas Mann, kein Tagebuch führte, damit es nichts Schriftliches gibt, das seine Gegner ihm zur Last legen konnten, sodass er sein Leben vor allem anhand fremder Quellen rekonstruieren muss.

Entsprechend kommen die Lebenserinnerungen nicht einfach als Lebensbeichte oder gar Sammlung von Lebensweisheiten daher, sondern in Form einer neuen Gattung, nennen wir sie mal: historische Autobiografie. Heym erzählt in einer subjektiv-objektiven Mischform. Zum einen entwickeln sich lange, Distanz aufbauende Satzperioden, die an die Sprache von Historikern erinnern; andererseits schaltet sich immer wieder eine persönliche Stimme mit Kommentaren zum Geschehen ein („grauenvoll“, „ungeheuerlich“). Eine solche autobiografische Romanprosa, durchgehalten auf fast 900 Seiten, hat bis heute keine Nachahmer gefunden. Sie ist aus der Zeit gefallen, da Heym sie gerade als Kritik am „Sozialistischen Realismus“ für die sozialistische Gesellschaft geschrieben hat. Man wird auf sie zurückkommen müssen, sollte der Sozialismus dereinst eine neue historische Chance erhalten.

Heym berichtet mehrmals, wie er von seiner Frau Gertrude gelernt hat, beim Schreiben das Wichtigste, die tiefste Intention, nur anzudeuten, um dem Leser Raum zum Atmen und Denken zu geben. So ist auch hier das Bewegendste und Erschütterndste nur ganz sachlich gesagt.

Nach dem Krieg erfährt er von einer ehemaligen Geliebten, dass er eine Tochter hat. Sie wurde in Auschwitz ermordet.

Wer es wagen will, (wieder) ins zwanzigste Jahrhundert einzutauchen, mit all seinen Schrecken und auch unzerstörbaren Hoffnungen, ohne Netz und doppelten Boden: Dem sei „Nachruf“ nachdrücklich auf den Nachttisch gelegt.

Ihr Jürgen Block

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