Jürgen wäre gern Ernest Hemingway gewesen

„Wir saßen und tranken.“

Aus diesem Satz aus Fiesta (engl. The Sun Also Rises) bestand lange Jahre für mich das Werk von Ernest Hemingway. Ich hatte das Buch in meiner Jugendzeit geschenkt bekommen, als eigentlich noch Jules Verne meinen Leseplan bestimmte. Ich las die merkwürdige Geschichte vom impotenten Jacob und seiner nymphomanischen Brett, die nicht zusammen bleiben konnten, aber am meisten beeindruckte mich dieser Satz. Ich fand es einfach cool, gemeinsam mit bekannten Künstlern im Café zu sitzen und über Gott und Kunst zu reden. Okay, erst sehr viel später bekam ich heraus, dass die Amerikaner sich das Leben in Paris nur leisten konnten, weil sie a) häufig Geld geerbt hatten und / oder b) vom starken Dollar in dem vom Ersten Weltkrieg zerrütteten Land profitierten. Davon hatte ich damals natürlich keine Ahnung. Ich hatte in meinem Dachzimmer eine kleine Bar eingerichtet mit Schnapsgläsern und einer Flasche Escorial, den ich meinen Kumpels anbot. Dann kam so ein richtiges Hemingway-Feeling auf, das auch durch meine spätere Lektüre weiterer Romane und Kurzgeschichten eigentlich nicht groß erschüttert wurde.

Das als Hintergrund. Und dann passierte es, dass ich beim Telefonat mit Evi, sie war gerade auf Shiatsu-Seminar, gedankenlos sagte, dass ich einmal im Leben gern der Hemingway in Paris sein wollte.

Evi: „Was? Dieser Chauvityp mit Waffenfimmel?“

Da hatte ich den Salat. Ich konnte ja schlecht sagen, du weißt doch, der und seine Kumpels, James Joyce, Ezra Pound, Gertrud Stein, in den Cafés in Paris, nun, die saßen und tranken.

Evi noch: „Ach, Fiesta. Ich erinnere mich nur an diese Szene, wo Stierhoden serviert wurden.“

Woran man sich halt so erinnert.

Ja, da half alles nichts, der Escorial kam zurück ins Regal und stattdessen kramte ich meine Hemingway-Kassette hervor. Das war vor drei Tagen. Was kann ich jetzt als Zwischenbilanz präsentieren?

So viel. Hemingway ist so was wie das Gegenprogramm zum Jules Verne, über den ich vor Kurzem gebloggt hatte. Während Vernes Romane noch in einer Zeit spielten, in der alles möglich war oder zumindest dafür gehalten wurde, so leben Hemingways Helden in einer um sich selbst kreisenden und sie zu zermalmen drohenden Welt, in der die Personen nicht viel mehr tun können als sitzen und sich betrinken. Es ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe, die die Menschen versehrt und traumatisiert zurücklässt. So entstand Hemingways berühmter lakonische Stil: als Ausdrucksweise der an Leib und Seele Kriegsversehrten. Dazu kommt die Angst vor Zensur, die hat Hemingway beim Verbot von James Joyce‘ Ulysses hautnah miterlebt. Es ist eben auch die Zensur, die ihn zwang, politische oder sexuelle Dinge nur anzudeuten. Natürlich saßen und tranken die Exilamerikaner in den 20er Jahren in Paris nicht nur rum, sondern sie gaben sich auch der einen oder anderen Ausschweifung hin, sodass der katholische Scott Fitzgerald später Paris in Babylon umbenennen konnte.

Darum halte ich übrigens Hemingways viel zitierte Eisbergtheorie, wonach der versierte Schriftsteller alles weglassen soll, was sich der Leser selbst zusammenreimen kann, für einen grimmigen Scherz. Die Lakonie war doch keine freiwillige Selbstbeschränkung, sondern von außen aufgedrückter Zwang. Hemingway wollte radikale Storys schreiben, aber auch verkaufen, da musste er auf Zensur und sensible Gemüter in den Verlagen Rücksicht nehmen und wohl oder übel Eisbergkompromisse eingehen. Heute nervt es mich bei der Lektüre von Fiesta schon sehr, wenn ich bei jedem Handlungssprung grübeln muss, was für eine versaute Szene da wieder unterdrückt wurde. Soll die Hemingwayphilologie sich doch darüber streiten, ob in der Leerstelle hinter einem Doppelpunkt es zu mehr als einem Blowjob kam. Wichtig wäre es ja schon zu wissen, wieweit Jake in seinen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt ist. Aber was gibt’s da groß zu interpretieren, wenn nur die Spitze des Eisbergs empirisch fassbar ist?

Also, lohnt es sich heute noch, Fiesta zu lesen und nachzuerleben? Dreimal ja, weil der Roman trotz allem so verteufelt human ist. Die Eisbergspitze ist das Geschwätz in den Pariser Cafés, darunter befindet sich das Nichts und das Grauen, die der Krieg in Seelen und Gemütern der Menschen hinterlassen hat. Kennen wir das nicht auch aus Facebook?! In Fiesta finden die beiden lädierten Hauptpersonen Brett und Jacob, die im realen Leben nicht voneinander lassen können, am Ende heraus, dass eine Beziehung zwischen ihnen zumindest denkbar sei. Denkbar ist nicht unmöglich, aber auch eher unrealistisch als wirklich möglich. Ehrlich: Wem würde ein solches Leben der abstrakten Möglichkeiten ausreichen? Kein Wunder, dass der arme Hemingway, um sich selbst zu spüren, alle Welt zum Boxkampf herausforderte und um ein paar Schläge auf seine Nuss bettelte. Daneben sein unstillbares Vergnügen an Stierkampf und Großwildjagd – nuja, wer’s heute noch mag.

Gott, was für eine Kraft muss es ihn gekostet haben, so ein Macholeben zu inszenieren. Da ist es nur konsequent, seine Figuren Stierhoden essen zu lassen und sich selber eine Kugel in den Kopf zu jagen.

Ich bin weiterhin ein absoluter Fan von ihm. Aber ich könnte mir ein Leben als Hemingway nur noch vorstellen, wenn ich die traumatische Weltkriegslakonie des 20. Jahrhunderts mit der überbordenden Fantasie des 19. Jahrhunderts und der Freizügigkeit des 21. Jahrhunderts kombinieren könnte:

„Wir saßen, tranken und redeten Tacheles.“

Ihr Jürgen Block

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