Jürgens herbstliche Reizwortgeschichte Nr. 3

Theodor Fontane: Spätherbst

Schon mischt sich Rot in der Blätter Grün,

Reseden und Astern im Verblühn,

Die Trauben geschnitten, der Hafer gemäht,

Der Herbst ist da, das Jahr wird spät.

Und doch (ob Herbst auch) die Sonne glüht –

Weg drum mit der Schwermut aus deinem Gemüt!

Banne die Sorge, genieße, was frommt,

Eh Stille, Schnee und Winter kommt.

Kraniche! Kraniche! Kraniche! Von den Schlafplätzen zu den Fressplätzen und wieder zurück, werfen sie ihre Schatten auf uns, ein ständiges Kommen und Gehen am Himmel. Auf den schwarzen Feldern stehen sie dann in grauen Mengen. Und die Felder sind hier groß und reichen bis zum Horizont, der auch gewaltig ist. Wie gesagt: Unser Ostprignitzurlaub. Das Wetter ist auch ein Schatz, morgens Nebel, aber ab Mittag Sonne satt. Heute Vormittag ist Mittelalter dran, im Archäologie-Park in Freyenstein, wo wir auf der Bank sitzen und über das Gelände gucken, das ausnahmsweise mal kein Schlachtfeld ist. Wobei. Okay, zu früh gefreut.

Unter diesem Acker liegen die Überreste einer Stadt mit rechtwinkligem Straßenmuster, Zeichen für planvolles menschliches Tun, immer wieder überfallen und bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Deshalb suchte man sich 1287 einen glücklicheren Ort hundert Meter weiter in einer Senke, wo es heute noch steht, Freyenstein, das heute sogar eine Sparkassenfiliale hat, aus deren Schatten ein Rentner uns vorhin beim Einparken beobachtete.

Jahrhundertelang wurde dieses Land dann unter den Pflug genommen, so dass die letzte Erinnerung an die erste Stadtgründung vergraben und vergessen war. Jetzt beginnt man Häuser und Straßen wieder auszubuddeln, wie dieses Kellergewöbe eines Stadthauses, das in einem Glashaus ausgestellt wird. Wir gehen auf dem Plankenweg, der über diesen tiefen Boden geschlagen wurde.

Wir haben einen Audioguide auf den Ohren und schlendern durch das mittelalterliche Stadtgeschehen. Allerdings ist man nach 42 Hörstationen und Zickzackgelaufe an der frischen Luft total platt und braucht dringend Nervennahrung, was uns zur Contraseite des Ostprignitzurlaubs führt, weil man hier gleich was ansetzt.

Ich springe mal. Neben dem Park steht noch eine alte DDR-Schule, aufgebaut vom Arbeitergroschen, aber jetzt blätternde Farbe und von Büschen und Gesträuch wie Dornröschens Schloss zugewachsen. Vorne eine rostende Pforte mit Zirkel, Buch und das daneben kann man nicht mehr erkennen. Dies ist wohl das nächste, was untern Pflug kommen wird. Dahinter eine Reihe vergessener alter Obstbäume. „Die schönen Äpfel und Birnen!“ Soraya. Wir sammeln sie auf und werfen sie zusammen in unseren Beutel („Botanischer Garten Braunschweig“, siehe Blogbeitrag Im Schlendergang zu Lessings Grab).

Zurück in unseren Herbst. Bald kommt der Winter, keine Sorge. Wir fahren wieder auf diesen engen Kreisstraßen, holla, wenn sich zwei Laster begegnen, muss einer von beiden in den Seitenstreifen seine Spuren hinterlassen.

Nachmittags Perleberg, wirklich eine Perle, gerne genutzt als Filmkulisse, zuletzt im „Weißen Band“. Sonne weg, Soraya kauft sich bei NKD Schal und Mütze mit Bommel, für ein paar lumpige Euros. „Dafür kann man nicht selber stricken.“ Bevor wir Für und Wider diskutieren konnten, große Enttäuschung: Das DDR-Museum ist seit März dicht. Ich rüttel noch am Tor, aber man lässt mich nicht rein.

Überraschung: Neben „Tätowierkanzlei“ und Döner gibt es direkt am Markt ein Antiquariat, aber ich habe keine Ruhe. Schräg gegenüber ein verwehtes Straßen-Café, aber auch mit Schal und Bommel kommt keine Kaffeestimmung auf. Der Wind fegt zwischen Kirche und Rathaus die Leute weg. Herbst ist die Jahreszeit, wo wir das Sterben lernen.

Gott sei Dank hat es hier das Regionalmuseum, die Mitarbeiter kauen die ganze Zeit an Brötchen mit Frikadellen (besser wohl „Bulletten“, hab vergessen nachzufragen). Drei Sternchen, nein, fünf, muss man heute ja sagen, super Ausstellung von Steinzeit bis Mittelalter. Hier sehen wir endlich leibhaftig die Gefäße, Bronzeschwert und Eisennadel aus dem Seddiner Königsgrab (neuntes vorchristliches Jahrhundert), wo wir früher schon mal waren. Am beachtlichsten: die kleine Eisennadel, unscheinbare Künderin einer neuen Zeit, der von Blut und Eisen. So im Kleinen fängt alles Große an.

Schwermutstropfen: Die ausgestellten Grabbeigaben sind nur Kopien. Die Originale kaufte 1899 das Märkische Museum in Berlin auf, wo alles im Bombenkrieg verbrannte. Die Geschichte frisst ihre Kinder.

„Krieg ist Scheiße.“ Soraya.

In der Mittelalterabteilung dann die Info, dass die Familie der Edlen Gänse im Zuge des Wendenkreuzzugs 1147 die Gebiete östlich der Elbe eroberte, die sie achthundert Jahre später im Zuge der sowjetischen Bodenreform wieder rausrücken musste.

Im Innenhof des Museums, neben einer vom Blitz getroffenen Kirchturmspitze, zeige ich auf verblühte Astern und Reseden und wie sich langsam Rot in der Blätter Grün mischt. Mir fällt dazu ein:

„Alles wird gut. Das sagt uns Goethes Farbenlehre: An der Art, wie sich Blau und Gelb ins Rötliche steigern und zu Purpur mischen, ohne die Farbharmonie zu zerstören, daran kann man den Kosmos erkennen, der sich über all seine Gegensätze zusammenhält und fortzeugt.“

„Wolf, wiste’ne Beer?“, Soraya dazu.

Es ist spät. Die Sonne gibt noch mal alles und versickert dann. Kurz noch bei Edeka vorbei.

Mit dem letzten Licht haben wir unser Ziel erreicht. Auf dem Vier-Seiten-Hof sagt man uns, dass im Dorf ein Kindergartenkind positiv getestet wurde.

Wow, unser dritter Tag. Wir beschließen, noch zwei Tage im Lande zu bleiben. Und das war’s.

Ihr
Jürgen Block

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