Joan liest vor: Richard Stockton – Der Greif und der jüngste der Domherren

Meine Oma ist eine höchst eitle, kleine Dame – obwohl kurzsichtig wie ein Maulwurf gibt es kaum Situationen, bei denen das Tragen einer Brille ihr gerechtfertigt erscheint. Das Vorlesen von Kinderbüchern gehört nicht zu diesen seltenen Anlässen und so hat meine Großmutter mir als Kind sehr wenig vorgelesen. Stattdessen erzählte sie mir Geschichten, meist solche, die sie selbst irgendwann einmal im Radio gehört hat. Leider haben wir beide die meisten inzwischen vergessen, so dass Sie sich meine Freude bestimmt vorstellen können, als ich diese Woche mit Richard Stocktons „Der Greif und der jüngste der Domherren“ einen alten Bekannten meiner Kindheit wiederentdeckte.

Die heutzutage wenig bekannte Erzählung gehörte lange Zeit zum Kanon der Jugendliteratur und bietet noch immer spannende Unterhaltung. Ein  Städtchen irgendwo im Nirgendwo wird von einem Greif heimgesucht, wo das vermeintliche Untier bald nicht nur Freundschaft mit dem titelgebenden jüngsten der Domherren schließt, sondern sich auf ganz eigene Art nützlich macht. Auffallend ist die Vielschichtigkeit der Erzählung, ohne  jemals ihre vielleicht fünfjährigen Zuhörer aus dem Auge zu verlieren. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass darin auch der Grund für ihr Verschwinden in der Vergessenheit zu suchen ist – sehr wenige moderne Kindererzählungen sind noch derart problematisch und muten dem Leser am Ende gar den Tod eines der Protagonisten zu. Astrid Lindgrens Werke  „Das Land der Dämmerung“ und  „Der Drachen mit den roten Augen“ fallen mir als einzige ein.

Wer sich daran nicht stört und vielleicht sogar speziell ein Kinderbuch fern des ewigen Idylls sucht, dem sei Stocktons „Der Greif und der jüngste der Domherren“ sehr ans Herz gelegt.    

Ihre
Joan Weng

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