Literarische Ausflüge: Ein unvergessener Kuss

Vor etwas mehr als 200 Jahren, genauer: am 7. und 8. Oktober 1815, holperte eine Kutsche durch den Odenwald, ungefähr dort, wo heute die B27 verläuft. Sie war in Heidelberg losgefahren, etwas überstürzt, denn einer der Reisenden war auf der Flucht. Sozusagen. Eine Dame soll der Anlass gewesen sein, nämlich Marianne von Willemer, die die letzte große Liebe seines Lebens gewesen sein soll, und vor der er floh, als der Heidelberger Boden für ihn zu heiß wurde. Er hatte die Dame noch unverheiratet kennen gelernt – ein Jahr zuvor, im Haus des Bankiers Johann Jakob von Willemer. Kurz nach der Begegnung mit Goethe heiratete Marianne den Bankier – vielleicht, um auf der sicheren Seite zu sein? Goethe widmete Marianne einige seiner erotischen Gedichte für den „Westöstlichen Divan“, die sie ebenso lyrisch beantwortete. Die Situation wurde schwierig, also lieber zurück nach Weimar. Übernachtet wurde in Neckarelz in der Alten Posthalterei. Dann ging es weiter über Mosbach, Oberschefflenz, Buchen, Walldürn bis Hardheim, wo man hielt und im Badischen Hof abstieg. Aber wie es so war im Leben des Geheimrats: Kaum der einen den Rücken gekehrt, entzückte ihn schon wieder die andere, nämlich des Wirtes Töchterlein, die im Badischen Hof bediente und ihm angeblich schöne Augen machte. Dafür gab es dann einen Kuss vom Geheimen Rat.

Woher wir das wissen? Möglicherweise von einem Besuch in Hardheim. Dort gibt es immer noch das „Goethe-Zimmer“ im Badischen Hof. Vielleicht von Thomas Mann, der die Szene in seinem Roman „Lotte in Weimar“ beschreibt. Die eigentliche Quelle ist aber Sulpiz Boisserée (1783 – 1854), ein Kunsthändler, der mit dem Geheimrat in der Kutsche fuhr. In seinen Notizen berichtet er: „In Hardheim Mittag-Essen ––– junges frisches Mädchen nicht schön aber verliebte Augen. Der Alte kuckt sie immer an. Kuß. Alter Mincio. Abends im Dunkel nach Würzburg.“

Wenn Sie also einmal nach Hardheim kommen und es ist nicht gerade Pandemie, dann steigen Sie doch die Stufen hoch zum Badischen Hof und schauen sich das Zimmer an. Dass Sie von der Bedienung einen Kuss bekommen, kann allerdings nicht garantiert werden.

Bis zum nächsten literarischen Ausflug,

Ihr Horst-Dieter Radke

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