Jürgens Winter (2): Jürgen sortiert seine Bücher

Meine Oma (1910 – 2005) hatte eine Anrichte aus der Gründerzeit, auf der immer ein chinesisches Teeservice in Drachenform stand. Aber in die Schubladen waren ihre Fotos reingestopft. Ihr Spruch: „Die sortiere ich, wenn mal Schnee liegt.“ Der Witz: Bei uns schneite es selten, und wenn, dann lag der Schnee nie lange genug, um dreihundert Fotos in Alben zu kleben. Also: Oma bekam das mit ihren Fotos nie auf die Kette, und jetzt stapeln sich bei mir im Keller die Bücher, obwohl der Öltank längst rausgeschmissen und der Heizungskeller in ein Bücherzimmer umgewidmet wurde. Und was sagt Wetter-Online? Schnee kannste vergessen.

„Ich helfe dir. Wo sollen die Bücher hin?“ (Soraya)

Mal sinnig. Am Anfang steht die Suche nach der richtigen Ordnung.

1) Nach Philippe Ariès (1914 – 1984) gehört die Fähigkeit, leise zu lesen, zu den „kulturellen Haupterrungenschaften“ der frühen Neuzeit, weil so das Lesen in der Intimität des Privatraums möglich wird, „die zur einsamen Reflexion einlädt“.

2) Für Georg Perec (1936 – 1982) ist Ordnen gleichbedeutend mit Denken, weil der Mensch mit seiner Ordnung dem Chaos seinen Stempel aufdrücken kann („Kurze Anmerkungen über die Kunst und die Art und Weise, seine Bücher zu ordnen“). Da ist es schon fast egal, welche Ordnung man nimmt. Man könnte die Bibliothek auf eine Bücherzahl begrenzen, zum Beispiel 361. Nun sollte jede Neuanschaffung wohlüberlegt sein, weil dafür ein anderes Buch weichen muss. Pluspunkt: Nicht mehr die Masse an Büchern zählt, die man sowieso nie im Leben durchgelesen bekommt, sondern die Einrichtung der perfekt auf die eigene Persönlichkeit zugeschnittene Bibliothek.

„So machen wir’s, ich erlaube auch 400 Bücher.“ (Soraya, natürlich.)

Nee, mit 400 kann man doch nicht das Universum und den ganzen Rest abdecken.

„Dafür reichen 42 Bücher.“ (Schlaumeier.)

3) Oder man macht es wie Kapitän Nemo aus Jules Verne (1828 – 1905) „Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren“, der mit seiner 12000 Bänden zählenden Bibliothek in seinem U-Boot einfach abtaucht, und gut. Das geht aber nur, wenn man glauben will, dass nach dem Abtauchen „die Menschheit nicht mehr gedacht und geschrieben hat“.

Zwischenfrage: Spiegelt die Bibliothek das Wissen der Menschheit wider und/oder macht sie aus mir einen besseren Menschen?

Wenn man kein Kapitän Nemo ist und den Raum zu knapp berechnet und man die neuangeschafften Bücher einfach (wie Oma) in die erstbesten Löcher stopft, droht die mühsam stabilisierte Ordnung wieder zu zerfallen. Das ist halt Entropie, könnte man sagen, oder wieder das Rumpelzimmer, in dem man nichts wiederfindet.

4) Oder Thomas Melle (*1975), der in den manischen Phasen seiner Krankheit alle Bücher und CDs verscheuert oder weggeschmissen hat. Der brauchte keinen Krieg, um am Ende ausgebombt und abgebrannt dazustehen.

„Goethe und Schiller kann man als E-Book auch umsonst im Internet kriegen.“ (Wer wohl?)

5) Ja, aber meinst du, ich will unter Nullen und Einsen auf einem Halbleiter surfen, wo bleiben da die Zwischentöne und das Tagträumen inmitten der geliebten Bücher, wie das zum Beispiel Michel de Montaigne (1533 – 1592) den lieben langen Tag gemacht hat? Der konnte von seiner berühmten Bibliothek im Turm aus, ohne selbst gesehen zu werden, sein ganzes Hauswesen mit einem Blick überschauen, ungefähr wie ich an meinem Kellerfenster. Dort konnte er unbehelligt von den Anmaßungen des Alltags seiner „Selbsterforschung“ nachgehen („Über dreierlei Umgang“ (III, 3)).

6) „Hast du eigentlich deine ganzen Bücher schon gelesen?“ (Auf diese Frage habe ich gewartet!)

Es gibt eben nicht nur Totschlagargumente, sondern auch Totschlagfragen.

7) Oder die „Bibliothek von Babel“ aus der gleichnamigen Erzählung von Jorge Luis Borges (1899 –1986) (die Modell stand für die Bibliothek in Umberto Ecos (1932 – 2016) „Der Name der Rose“). Darin gibt es unendlich viele Bücher, in denen die 25 Zeichen des Alphabets in allen möglichen Kombinationen vorkommen, so dass die vorhandenen Bücher alles, „was sich irgend ausdrücken lässt“, ausdrücken: in allen Sprachen, Vorstufen, Varianten, Übersetzungen etc.

„Wow, dein nächster Roman ist schon geschrieben!“ (Yep, meine Soraya!)

8) Oder die Tagebücher von Samuel Pepys (1633 – 1703), der als frischgebackener Erster Sekretär des Flottenamts in London beginnt, sich im Arbeitszimmer eine Bibliothek einzurichten. Was alles am 13. Oktober 1660 geschah: Zuerst ist er Zeuge der Hinrichtung eines Generalmajor Harrison, „der gehängt, ausgeweidet und gevierteilt werden sollte, was auch geschah“. Als dessen Kopf und Herz den Zuschauern gezeigt wird, bricht Jubel aus. Pepys selbst jubelt wohl nicht, er stellt dies nur in geradezu naturwissenschaftlicher Strenge fest. Zu Hause beschimpfte er seine Frau und trat in seiner „Erregung“ einen Korb aus Holland kaputt. Also doch Gefühlsregungen, verständlich, denn er hätte an Harrisons Stelle stehen können, wenn er nicht auf die Schnelle Anhänger des neuen Königs Charles II. geworden wäre. Für den Rest dieses ereignisreichen Tages notiert er: „Den ganzen Nachmittag im Haus und Regale in meinem Arbeitszimmer aufgebaut. Spätabends zu Bett.“

Das Letzte hätte auch in meinem Tagebuch stehen können. (Nachtrag: Am 25. September trank Pepys seine erste Tasse chinesischen Tees (siehe Omas Teeservice)).

Notiz: Beim nächsten Roman werde ich Pepys‘ und Montaignes Herangehensweisen verbinden, Selbsterforschung mit naturwissenschaftlich-getreuer Beobachtung.

9) Oder unser Klempner, der bei uns ein neues Heizkörperventil einbaute, indem er das Wasser in den Rohren mit einem dröhnenden Apparat einfror. O-Ton: „Einfrieren ist meine Philosophie!“ Wie beneidete ich ihn, während ich nicht wusste, wohin in den Regalen mit Heraklit bis Habermas.

10) Oder John Locke (1632 – 1704), der seine Bücher mit einer Signatur katalogmäßig erfasste, so dass er sie leicht wiederfinden konnte, obwohl sie kunterbunt durcheinander und allenfalls nach Größe sortiert waren. Hat auch was, aber entspricht diese zufällige Ordnung der Bibliothek noch der Harmonie des Universums? Hat eine zufällige Ordnung noch was mit Denken zu tun?

11) Bücher sind doch keine Wölfe, die sich gegenseitig zerfleischen, sondern soziale Wesen wie du und ich, die Luft und Liebe brauchen, wie es Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) für die Wörter herausgefunden hat. Deshalb muss die Bibliothek sozusagen eine Friedensordnung herstellen, in der sich die Gegensätze der Bücher ausgleichen und man sich zu Tee, Keksen und Reflexion eingeladen fühlt.

12) Da gibt’s noch den bekannten Roman „Der Schatten des Windes“ von Carlos Ruiz Zafón (1964 – 2020) über eine geheime Bibliothek, den „Friedhof der vergessenen Bücher“, aber die kenne ich nicht, weil ich den Roman leider noch nicht gelesen habe.

13) „Butter bei die Fische, wir fangen jetzt an.“ (Sie wieder.)

Mal sinnig, okay, dann machen wir es wie Walter Kempowski (1929 – 2007): Alphabetische Ordnung für die Belletristik und die Sekundärliteratur kommt gleich neben die entsprechenden Autoren. Das habe ich mir abgeguckt, als wir seine Witwe im „Kreienhoop“ besuchten.

„Und wer hat dort angerufen und den Termin gemacht? Wenn du deine Frau nicht hättest!“ (Stimmt.)

14) Das glaubt mir kein Schwein, jetzt fängt’s tatsächlich zu schneien an. Erst noch Schnee schieben, aber dann geht’s gleich los. Ich stelle mir mein Bücherzimmer schon bildlich vor: Wenn die Brandabschnittstür hinter mir zufällt, dann können mich alle Calibans dieser Welt mal, und ich rufe ihnen mit Prospero hinterher: „… mein Büchersaal / War Herzogtums genug“ (William Shakespeare (1564 – 1616): Der Sturm, I, 2).

Literatur:

Philippe Aries / Georges Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 3. Band: Von der Renaissance zur Aufklärung. Frankfurt/Main (S. Fischer Verlag) 1991.

Jorge Luis Borges: Fiktionen. Erzählungen. München Wien (Carl Hanser Verlag) 1992.

Umberto Eco: Der Name der Rose. München (dtv) 1984.

Walter Kempowski: Tadellöser und Wolff. Ein bürgerlicher Roman. München (dtv) 1975.

Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den Verstand, Buch III – IV, in: Philosophische Schriften Band III, 2, hrsg. und übersetzt von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1985.

John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. (Übersetzt und erläutert von J.H.v. Kirchmann.) Leipzig (Verlag der Dürr’schen Buchhandlung) 1894.

Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Berlin (Rowohlt) 2016.

Michel de Montaigne: Essais. (Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett). Frankfurt / M. (Eichborn) 1998.

Samuel Pepys: Die Tagebücher. (Vollständige Ausgabe in sechs Bänden nebst einem Beiheft, hrsg. v. Gerd Haffmans) Feldafing (Haffmans Verlag bei Zweitausendeins Versand) 32018.

Georg Perec: Denken/Ordnen. Zürich – Berlin (diaphanes) 2014.

William Shakespeare: Der Sturm, in: W.S.: Sämtliche Werke in vier Bänden, Band 2 (Übersetzt von August Wilhelm Schlegel, hrsg. v. Günther Klotz). Berlin (Aufbau-Verlag) 2000. S. 595 – 667.

Jules Verne: Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren. (Übersetzt von Volker Dehs). München (dtv) 2009.

Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes, Frankfurt (Fischer Taschenbuchverlag) 2013.

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