Mit dem Echolot durch Walter Kempowskis Haus

Walter Kempowski wohnt eine Stunde von uns entfernt. Wohnte, muss ich natürlich sagen, da er seit 2007 tot ist. Seine Witwe ist mittlerweile auch nicht mehr. Sie haben wir noch kennengelernt, als wir Anfang Februar mit meiner Mutter über die Dörfer nach Nartum fuhren. Evi, meine Frau, hatte das eingefädelt, weil sie irgendein Buch von ihm gelesen hatte und sich dachte …

„Nun bin ich mal gespannt, was du denkst, was ich dachte?“

Aber du hast doch den einen Roman gelesen, Im Block oder so.

Du hast gesagt, der Kempowski wohnt gar nicht so weit weg, gleich an der A 1, Abfahrt Bockel.“

Boo-ckel, mit langem o, das c ist hier ein Längezeichen, wie bei Mee-cklenburg.

„Lenk nicht ab. Und deine Mutter ist doch der größte Kempowski-Fan.“

Das muss ich vielleicht näher erklären. Meine Mutter hatte früher eine Arbeitskollegin (auch schon tot), deren Bekannter aus der Eifel mit Kempowski in Bautzen einsaß. So kam sie auf Tadellöser und Wolf, Mitte der Siebziger muss das gewesen sein. Kempowski war dann der einzige moderne Nachkriegsautor, der im Bücherregal meiner Eltern stand. Und für mich war der Tadellöser die erste literarische Ganzschrift, die ich privat gelesen habe, außerhalb der Schule. Und zwar in unserem roten Käfer, als wir in den Urlaub nach Österreich fuhren.

Wenn ich ehrlich bin, vom Tadellöser habe ich heute nur noch die Bilder von der Verfilmung mit Karl Liefen und Edda Seipel im Kopf. Und dem coolen Martin Semmelrogge als Bruder Robert. Damals fanden wir besonders die Redewendungen lustig, mit „Gut dem Dinge“ und „Scheiße mit Reiße“. In meiner Studentenzeit lehnte ich die Romane ab, weil sie von der Form her nicht anspruchsvoll genug waren, meiner damaligen Ansicht nach, und weil der Herr sich für die Bewerbung der FDP hergeben hatte.

Wir fuhren also im Februar durch das kahle Land, das Navi führte uns und der Wind fegte ein paar verwaiste Schneeflocken über die Straße. Im Dorf Nartum wurden wir gleich mit ein paar Hinweisschildern empfangen, die den Weg zum Haus Kreihenhoop zeigten. Wir waren früh dran und konnten noch die Beine vertreten, am Grundstück entlang. Dorfrandgebiet, plattes Land, aber Krähen Fehlanzeige.

Frau Kempowski öffnete pünktlich die Tür, nahm das Eintrittsgeld und ließ uns allein.

„Nein, Jürgen, sie kam mit uns noch ins Rostockzimmer und holte ein dickes Buch aus dem Regal und legte es aufgeschlagen auf den Tisch.“

Einen Echolot-Band. Der war ihr also besonders wichtig. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie viel Liebenszeit ihr Mann mit dem Zusammenstellen des Echolot verbracht hat.

„Du hast Liebenszeit gesagt.“

Ich rede mich noch um Kopf und Kragen. Wir nahmen uns jedenfalls richtig Zeit und blieben fast zwei Stunden.

Am meisten beeindruckten mich: Die bunte Glasmenagerie mit Vasen und Aschenbechern aus den Fünfzigerjahren, die kilometerlangen Bücherregale (logisch) und der Propellerabschnitt.

Da lag tatsächlich neben dem Spielzeuggedöns (Blechautos, Modelleisenbahn, Winterhilfswerkfiguren) so eine ovale Holzscheibe in der Vitrine, die von einem Propeller abgesägt worden war. Im Ersten Weltkrieg war über Deutschland ein englischer Doppeldecker abgeschossen wurden, und diese Holzscheibe diente in bürgerlichen Stuben als nationaler Aschenbecher oder Gebäckschale.

An dieser Propellerscheibe kann man sehen, wie Kempowskis Hausmuseum funktioniert. Ein Alltagsgegenstand aus dem 20. Jahrhundert wird in die Vitrine gestellt und erhält so die Möglichkeit, mit dem Sprechen anzufangen und uns seine Geschichte zu erzählen. Dies scheint mir der Knackpunkt der Kempowski’schen Ästhetik zu sein. Seine Gegenstände und Bücher erzählen Geschichte im Doppelsinne: Sie erzählen einmal von der realen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert und zweitens fiktive Geschichten aus der Sicht einzelner Individuen. Das ist doch wahr: Wieso soll man sich noch Geschichten im Kopf ausdenken, Krimis, Komödien oder son Liebeszeugs, sozusagen Geschichten aus zweiter Hand, wenn unsere reale Geschichte voller Leid und individueller Schicksale ist, das heißt selber randvoll von Geschichten: von Geschichte-Geschichten?

Für mich lautet die Hauptfrage von Kempowskis Schreiben: Wie war Auschwitz möglich? Und die Propellerscheibe, die sich die bürgerliche Familie Kempowski ins Wohnzimmer legte, gibt erste Antworten darauf.

Nach diesem Prinzip funktionieren auch die Romane von Aus großer Zeit bis Herzlich willkommen, und vor allem das große Echolot-Projekt, bei dem in zehn fetten Bänden normale Leute und Promis in einer Art Chor zu Wort kommen und über ihr Leben im Zweiten Weltkrieg erzählen. Die Textabschnitte sind wie der Propellerabschnitt: Geschichte-Geschichten. Unsere deutsche Geschichte ist weder spannend noch fürs Herz. Sondern barbarisch. Und mit dem Echolot können wir ausloten, wie viel Barbarei noch in uns steckt.

„Aber trotzdem. Ich könnte das nicht lesen. Nur die Aufzeichnungen von unzähligen Leuten und kein bisschen Herz und Handlung.“

Wir gingen sinnierend und flüsternd durchs Haus.

Der Kempowski hat im Zweiten Weltkrieg alles verloren, dazu kamen noch acht Jahre Knast wegen weiß der Teufel was. Mit diesem Haus hat er sich seinen Antiknast geschaffen: einen breiten Schreibtisch mit Panoramascheibe, Händewaschbecken alle paar Meter, den legendären Turm, der die gesammelten Tagebücher aufbewahrte, bis sie vom Deutschen Tagebucharchiv übernommen wurden. Aber vor allem die ganzen Verzierungen im Haus: die blauen und roten Dreiecke an der Decke im Veranstaltungsraum, die Skulpturen im Büchergang, das Rostockzimmer mit den an himmelblauen Balken hängenden Segelschiffen und der Biedermeiersessel, auf dem meine Mutter gleich Platz nahm. Alles bis ins Kleinste arrangiert und durchgestylt, und zwar allein vom Hausherrn, wie uns Frau Kempowski versicherte, die nur fürs Blumengießen zuständig war. Kurz: Nichts war ungeplant und unbedacht oder dem Zufall überlassen. Vielleicht ist das der tiefste Grund von Kempowskis Schreiben: der Versuch, unsere unbegreifliche Geschichte zusammenzuhalten und in den Griff zu bekommen. Sein Werk hat also doch eine Form, viel radikaler als das von Heinrich Böll oder Günter Grass, falls jemandem die Namen noch was sagen. Ein Werk, das jetzt gerade wieder in Vergessenheit zu geraten droht, wenn sich keiner findet, der die Sammel- und Archivierarbeit wertschätzt und fortsetzt.

Nach zwei Stunden waren wir durch, selbst die Fernsehcouch haben wir nicht ausgelassen. Ich hätte am liebsten noch etwas über Adelbert Humperdinck fantasiert, aber der Flügel war verschlossen. Man kann nicht alles haben. Wir bedankten uns herzlich bei Frau Kempowski und fuhren im Winterzwielicht heimwärts. Mutter sagte noch:

„Das war doch mal ein schöner Ausflug.“

Klare Sache und damit hopp!

Ihr

Jürgen Block

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