Kristin liest: Marieke Lucas Rijneveld – Was man sät

Niederlande, heute. Der älteste Sohn der Familie bricht beim Schlittschuhlaufen ein und ertrinkt. Und von da an ist in dieser strenggläubigen, fleißigen und wohlanständigen Bauernfamilie alles viel schlimmer, als es sowieso schon war.

Schlagartig wird alles zum Tabu: zu lachen oder mit Genuss zu essen. Über den toten Bruder zu sprechen oder Gottes Ratschluss, ihn sterben zu lassen, infrage zu stellen. Offen zu trauern und zu weinen. Darüber hinaus glauben alle, den Tod mitverursacht zu haben. Die zehnjährige Erzählerin Jas, indem sie Gott gebeten hat, lieber den Bruder zu sich zu nehmen, als den Vater weiter ihr Lieblingskaninchen mästen zu lassen. Das Schlimme sind nicht diese Gedanken an sich, sondern dass Jas mit niemandem darüber sprechen kann. Die Eltern haben aus wieder anderen, natürlich gottesfürchtigen Gründen Schuldgefühle und sind außerstande, ihre lebenden Kinder und deren Bedürfnisse überhaupt noch wahrzunehmen.

Sie alle sind keine bösen Menschen. Aber sie beginnen, böse Dinge zu tun. Am deutlichsten der ältere Bruder, der anfängt, Tiere zu töten oder seltsame Spielchen mit den Schwestern zu spielen. Bitte, nein, denke ich beim Lesen dieser Szenen. So sollen kleine Mädchen ihre Sexualität nicht entdecken. Überhaupt gerät Jas, auch das steht im Raum, in Gefahr, in ihrer Sehnsucht nach Zuneigung erpressbar und ausbeutbar zu werden. Und ich hoffe die ganze Zeit, dass wenigstens das eine in der Schwebe bleibt ‒ das mit dem Freund der Familie, dem Tierarzt.

Jas sticht sich eine Reißzwecke in den Bauchnabel wie in die Karte im Erdkundeunterricht, damit sie nicht vergisst, wo sie ist. Auch im Haus und in der Schule zieht sie ihre Jacke nicht mehr aus. Die wird immer schmutziger, worauf „Jacke“, wie Jas fortan genannt wird, von den anderen Kindern gehänselt wird. Irgendwann kann sie nicht mehr aufs Klo, wohl, weil sie nichts mehr von sich abgeben, weil sie „ganz“ bleiben möchte.

Ich wünsche mir beim Lesen, dass jetzt bitte, bitte die Mutter die Kinder mal in den Arm nimmt. Oder der Vater. Oder der Vater die Mutter. Auch Jas wünscht sich nichts anderes. Sie wünscht sich so sehr irgendetwas von alldem, dass sie in ihrem Zimmer Kröten hält und sie dazu bringen will, sich zu paaren, damit vielleicht auch Vater und Mutter wieder zärtlich zueinander sind. Aber alles, was passiert, ist, dass auch die Kröten immer mickriger werden. Und wie die Kröten wird die ganze Familie immer kümmerlicher, weil die Trauer in jedem Einzelnen anschwillt wie ein giftiges Geschwür und alles um sich herum auffrisst.

Was man sät ist ein Buch über den Tod und übers Heranwachsen, über Liebe, über Sünde und Sprachlosigkeit. Über Trauer, die halb wahnsinnig macht, weil sie unausgesprochen und unausgelebt bleibt. Das Buch ist schmerzhaft und beinahe Übelkeit erregend. Und gleichzeitig auf jeder Seite ungeheuer zart, poetisch und wunderschön, weil Jas die kleinen Alltagsdinge um sich herum ‒ vom Lernstoff in der Schule über die Möhren im Garten bis zum Stück Schokoladenpapier ‒ mit den großen Fragen verknüpft, auf die sie verzweifelt Antworten sucht: Warum ist mein Bruder gestorben? Warum sterben Menschen überhaupt, und was kann ich tun, damit Vater und Mutter mich wieder lieben? Was man sät ist ein Buch, das mir für Momente den Boden unter den Füßen weggerissen hat.

Ihre

Kristin Lange

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