Jürgens lebensveränderndes Buch: Jules Verne – Keraban der Starrkopf

Die Romane von Jules Verne waren die ersten Bücher, die ich gesammelt habe.

„Typisch Jungenromane.“

Sagt Evi, meine Frau, die in ihrer Schulzeit mindestens einen Roman von Jules Verne gelesen hat und noch heute davon schwärmt: Die Reise um die Welt in achtzig Tagen.

„Das ist doch was ganz anderes. Der Phileas Fogg und die Prinzessin Aouda, hach.“

Weitere Titel: Der Kurier des Zaren, Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren, Die Reise von der Erde zum Mond, Die Propellerinsel, Die Eissphinx, Das Karpatenschloss. Ich musste damals mit meinem Taschengeld auskommen, darum verbrachte ich viel Zeit bei Horten und Karstadt, die damals noch richtige Buchabteilungen hatten, und strich um die Fischer Taschenbuchausgabe mit dem goldenen Streifen herum. Wenn ich mir mal ein Buch geleistet habe, war ich für den Rest des Monats pleite.

„Wir waren damals anders als unsere Kinder“, sagt Evi immer, „für uns war Lesen lebenswichtig, um Erfahrung über das Leben und die Welt und überhaupt zu machen.“

Damals liebte ich die Romane von Jules Verne, weil sie mich wie mit einer Kanone in eine andere Umlaufbahn schossen.

„Kann ich unterschreiben. Aber was hat dich wieder zurück auf die Erde geholt?“ So Evi.

An Jules Vernes wird oft gerühmt, dass er die technologische Entwicklung unserer Zeit vorausgesehen habe. In den Romanen gingen so Wagemut, Naturwissenschaft und Raketen eine wilde Mischung ein. Aber das ist eben nur die halbe, besser Viertel Wahrheit, die Romane bieten noch viel mehr. Nehmen wir Die Reise um die Welt in achtzig Tagen. Dieser Roman ist so prallvoll mit fremden Ländern, Abenteuern und schrägen Typen, dass der Leser selbst die Erfahrungen einer Weltreise macht – an einem Lesetag. Eine Weltumrundung an einem Tag würde heutzutage nicht mal die Concorde schaffen, und danach hätte man, statt fremde Länder und Leute kennenzulernen, höchstens eingeschlafene Beine und eine Matschbirne.

In meinem lebensentscheidenden Roman tritt ein Verlierer und Abgehängter des technologischen Fortschritts und des damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Umbruchs auf: Keraban der Starrkopf. Mir gefiel einfach die verrückte Konsequenz dieses Türken aus Konstantinopel. Sein Leben gerät total durcheinander, weil eine neue Steuer für die Fähre über den Bosporus erhoben wurde. Wie kommt Keraban jetzt zum asiatischen Teil Konstantinopels rüber, wenn er für die Überfahrt nicht zahlen will? Indem er einfach den anderen Weg nimmt, nämlich den Landweg um das Schwarze Meer herum. Abgefahrener Typ, dachte ich damals, der seinen eigenen Kopf hat und genug Traute, ihn durchzusetzen, notfalls auch durch die Wand, stimmt‘s?

„Sprichst du gerade von dir?“

Wie kommst du darauf? Du kennst den Roman doch gar nicht.

Aber ich wollte auf was anderes hinaus. Das Großartige an Jules Vernes Romanen ist, dass sie immer aufs Ganze gehen und alle Seiten darstellen: Fortschritt und Wahnsinn. Der Verne war nämlich selber konservativ bis auf die Knochen, missionierender Katholik und Monarchist. Aber aus dieser politischen Einseitigkeit entstehen bei Verne keine einseitigen Romane. Verne hatte wohl auch was von dem Keraban-Typ, der sich dem technischen Fortschritt und der Steuerpflicht verweigert. Keraban hat noch einen Turban als Kopfbedeckung auf, keinen modischen Fez, und er ist stolz auf seinen Bauch. Darüber konnte ich mich damals nicht genug amüsieren, dass er am Ende der Reise betrübt ist, Gewicht und einen Teil seines stolzen Bauches verloren zu haben.

„Solltest du nicht auch mal wieder etwas Sport treiben? Nur so eine Frage.“

Auch Umwege führen zum Ziel. So wird aus dem kurzen Heimweg eine Odyssee durch das zerbröckelnde Osmanische Reich, und der Erzähler nutzt die Gelegenheit, viele Informationen über Geografie und Geschichte des Schwarzen Meeres einzuflechten. Das ist ja typisch für Jules Vernes Romane, dass seine Erzähler enzyklopädisch unterwegs sind.

„Aber ein bisschen eindimensional sind die Personen bei Verne schon, stimmt’s?“ Sie, Evi.

Das ist eine andere Geschichte. Für mich ist Keraban der Starrkopf der lebensentscheidende Roman, weil er zeigt, dass Starrköpfigkeit das Leben erst schön macht.

„Wie bitte?!“ Ist doch klar, ohne Starrköpfigkeit gäbe es keine Literatur. Hätte Keraban nachgegeben und die Fähre genommen, wäre aus der kurzen Überfahrt kaum ein solch spannender und lehrreicher Roman herausgekommen, habe ich Recht?

Ihr Jürgen Block

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