Mein Sommerbuch für immer

Ich war dreizehn, knapp vierzehn. Und hatte mir vorgenommen, in den Ferien einen ganz bestimmten Roman zu lesen. Seit ich denken konnte, stand er in Form von drei schmucken, in Leinen gebundenen Bänden bei uns im Bücherregal: Kristin Lavranstochter von Sigrid Undset. Meine plötzliche Neugier auf das Buch, von dem ich bis dato nur wusste, dass meine Eltern mich nach ihm benannt hatten, ließ mich verzeihen, dass es in deutscher Schrift gedruckt war und zudem einen Stoff behandelte, der mich per se kaum interessierte.

Drei Bände also. Der Kranz, die Frau, das Kreuz. Knapp tausend Seiten, ich viel zu jung für das Ganze ‒ und nach wenigen Seiten schockverliebt. In die Geschichte, in die Heldin, und zwar unabhängig von der Vorstellung, dass sie ‒ zumindest namentlich ‒  die Vorlage für meine Existenz gewesen war. Drei herrliche Wochen lang führten sie und ich Parallelleben. Während ich mit meinen Eltern und meiner Schwester über die Klippen Cornwalls wandelte, um in winzigen, versteckten Buchten im golfstromerwärmten Atlantik zu baden und zwischendurch zu lesen, zu lesen und zu lesen, kam die andere Kristin um 1300 als Tochter einflussreicher Großbauern zur Welt und wuchs wohlbehütet im Trondheimischen auf. Nachmittags lag ich im Garten unseres gemieteten Cottages, kontrollierte mehrmals stündlich den fortschreitenden und damals extrem wichtigen Grad meiner Bräune, und verfolgte lesend, wie die andere Kristin von ihren Eltern zu den Nonnen gesteckt wurde, um sie zu einer rechtschaffenen Jungfer ausbilden zu lassen. Mit fünfzehn in ein Kloster, man stelle sich vor! Ausschließlich klösterlich schien es aber zum Glück auch im mittelalterlichen Norwegen nicht zuzugehen, oder es gab jedenfalls ein Leben jenseits der Klosterschulmauern. Während ich immer häufiger darüber nachdachte, wie es wäre, Jungs im Allgemeinen oder J. aus Solingen im Besonderen zu … nein, natürlich nicht zu küssen,  aber doch irgendetwas zu tun, was irgendwann einmal zum Küssen führen könnte ‒ während dieser Überlegungen also hatte die andere Kristin längst auf einem heimlichen Ausflug ihren schönen Ritter Erlend kennengelernt, ihn gegen den Willen ihres Vaters flott geheiratet und ihm in rascher Folge drei prächtige Knaben geboren. Kein Wunder, dass der Vater sich zunächst strikt gegen die Verbindung aussprach, war dieser Erlend doch ein rechter Filou und Haudegen ‒ ganz anders als J. aus Solingen, der vergleichsweise brav mit seinen Eltern auf dem benachbarten Campingplatz Urlaub machte. Nachdem genug der scheuen Blicke getauscht worden waren, erzählte J. aber meiner Schwester und mir immerhin Spukgeschichten und spielte uns auf seiner Gitarre Cat Stevens-Songs zum Mitsingen vor.

Die Ferien neigten sich dem Ende zu. Der Roman auch. Und während J. und ich uns weiterhin nicht küssten und auch nie küssen würden, weil plötzlich die Abreise bevorstand, ohne dass einer von uns genug von etwas getan hatte, das irgendwann zum Küssen führen könnte, da waren der schöne Erlend längst durch den Schwertstreich eines anderen Mannes gefällt, die drei prächtigen Söhne in alle Winde zerstreut und die andere Kristin tot. Gestorben an der schwarzen Pest nach einem grässlichen Blutsturz, als alte Frau von bald fünfzig Jahren! Viele Sätze aus dem Roman haben sich mir eingeprägt, und ganz besonders einer, der einen der letzten klaren Gedanken Kristins ausdrückt: Dass eine alte Frau so viel Blut haben kann! Hu. Kristin starb aber in Frieden, erfüllt von göttlichem Trost. Göttlich vor allem, das fand ich damals wie heute, auch die Erzählkunst Sigrid Undsets, deren Plastizität mir das Denken und Fühlen der Menschen im Mittelalter auf eine Weise vermittelte, wie ich es nie danach bei einem historischen Roman erlebt habe.

Und so kommt es, dass mein spezielles Sommerbuch für immer der Roman über das Leben einer norwegischen Bauerntochter zur Zeit der Christianisierung sein wird. Wann immer ich mit Salzgeruch in der Nase an einem hellen Strand liege und auf die blaugrüne See blicke, werde ich Lust bekommen, Kristin Lavranstochter zu lesen. Oder umgekehrt: Immer, wenn ich Kristin Lavranstochter lese oder auch nur an das Buch denke, werde ich Lust bekommen, am Meer zu liegen. Oder im Garten eines englischen Cottages. Und mal wieder Lady d‘Arbanville zu hören.

Ihre
Kristin Lange

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