Einen Onkel zu haben, der einem Geschichten erzählt, ist keine schlechte Sache auf den ersten Blick. Wenn man auf dem Weg zu ihm aber durch einen Wald muss, in dem merkwürdige Begleiter mit einem gehen, bekommt das Ganze schon einen anderen Anstrich. Noch eigenartiger wird es, wenn klar ist, dass Onkel Montagues Geschichten, so prächtig er sie auch erzählt, nie gut ausgehen. Dass die Dinge, die in den Geschichten des Onkels keine unwichtige Rolle spielen, dazu noch in Onkels Haus herumliegen, gibt dem Ganzen eine besonders schaurige Note. Geschichte um Geschichte zögert der Protagonist die Rückkehr nach Hause hinaus. Als er dann aber los muss, ist die Dämmerung bereits weit fortgeschritten, und Nebel hat’s auch noch. Dann wird es erst richtig schaurig.
Als ich mit dem Lesen begann, dachte ich, das ist ein Kinder-, allenfalls Jugendbuch. Allzu doll kann’s nicht kommen. Schon nach der ersten Geschichte begann ich zu ahnen, dass es noch doller kommt, als es den Anschein hatte. Jede Geschichte greift ein Gruselmotiv auf, dass ich irgendwoher schon kannte. So gut und originell erzählt habe ich es aber bislang noch nicht gelesen. Wenn ich überhaupt vergleichen sollte, dann würde ich sagen, Priestley ist ein legitimer Nachfolger von Sheridan Le Fanu. Aber jetzt, wo ich es hingeschrieben habe, gefällt mir das auch wieder nicht. Priestley ist ein ganz eigener Schauergeschichtenautor, und das schaurigste ist, dass der Verlag dieses Buch mit der Nummer 1 versehen hat (nicht auf dem Cover oder im Impressum, sondern im Verlagskatalog). Ich ahne schon, dass ich an einem folgenden Band Schauergeschichten nicht vorbeikomme, dass alle Möglichkeiten ihn zu umgehen, misslingen werden und ich hindurch muss. Eine schaurig-schöne Vorstellung.
Absolute Leseempfehlung. Einnahme bitte jeweils eine Geschichte abends vor dem Schlafengehen. Bei Überdosierung eine Tasse Baldriantee trinken.
Oetinger, 2023, ISBN 978-3-7512-0481-1
Ich wünsche ein gruseliges Lesevergnügen
Ihr Horst-Dieter Radke