Ingrid liest: Kazuo Ishiguro – Alles, was wir geben mussten

Was lese ich bloß als Nächstes? Nichts scheint mir angemessen, nachdem ich dieses Buch zu Ende gelesen habe. Ich denke weiter über das grausame Szenario nach und kriege Kathys sanfte Erzählstimme nicht aus dem Kopf. Dabei habe ich mich am Anfang nicht leichtgetan mit dem Roman und kann verstehen, dass die kühl erzählte Geschichte nicht jeden packt, wie in Rezensionen zu lesen ist.

Sportplätze, Schlafsäle, Malstunden – auf den ersten Blick ist Hailsham ein altbekanntes Internat in der englischen Provinz. Aber die Lehrer heißen Aufseher, und sie lassen die Kinder, die Buchstaben statt Nachnamen haben, früh spüren, dass sie für eine besondere Zukunft ausersehen sind. Dieses Gefühl hält Kathy, Ruth und Tommy in ihrer Kindheit und Jugend zusammen, bis es an der Zeit ist, ihrer wahren Bestimmung zu folgen.

Kathy erzählt diese Geschichte in Rückblicken: auf ihre Zeit in Hailsham, ihre Jahre als junge Erwachsene und ihre jüngste Vergangenheit als „Betreuerin“, unter anderen für Ruth. Die brutale Wahrheit wird erst im zweiten Teil des Romans offen ausgesprochen, aber schon auf den ersten Seiten ist fühlbar, dass etwas Monströses über den jungen Menschen schwebt. Sie werden erzogen und behütet, aber sie wissen, dass sie nur zu einem einzigen Zweck leben, den sie niemals infrage stellen: zu „spenden“.

Wie jeder Teenager plaudert Kathy über die kleinen Dinge ihres Lebens: ein besonderes Federmäppchen, eine Musikkassette, Eifersüchteleien und Streitigkeiten, Sex und Liebe. Und genauso offen, kühl und sanft spricht sie über ihre unaufhaltsame Zukunft.

Kazuo Ishiguro braucht für seine Dystopie weder die ferne Zukunft noch großes Drama. Er hat die Geschichte in der näheren Vergangenheit angesiedelt, das eiskalte Grauen entsteht aus der so bekannten Banalität des Alltags und der Emotionslosigkeit, mit der die jungen Menschen ihrer Aufgabe entgegengehen.

Nach den ersten Kapiteln hat mich der Roman nicht mehr losgelassen. Obwohl er langsam erzählt ist, obwohl es keine Überraschungen gibt, alles kommt, wie es kommen muss, habe ich Nächte durchgelesen. Die Geschichte hat mich tief bewegt und beschäftigt mich immer noch. Kazuo Ishiguro hat den Literaturnobelpreis 2017 verdient. Chapeau!

Und was lese ich als Nächstes?

Ihre Ingrid Haag

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