Kristins lebensveränderndes Buch: Astrid Lindgren ‒ Die Brüder Löwenherz

Ob es ein Buch gibt, das mein Leben verändert, mich vielleicht sogar zum Schreiben gebracht hat? Letzteres sicher nicht, eher war es die Summe des bis dahin Gelesenen, die allmählich den Wunsch geweckt hat, einmal auf der anderen Seite zu stehen. Fragt man mich allerdings nach dem Buch, das mich im Leben am meisten beeindruckt hat, dann ist und bleibt die Antwort: Die Brüder Löwenherz. So wie auch Astrid Lindgren schriftstellerisch gesehen immer meine Heldin bleiben wird.

Zur Erinnerung die Handlung in Kürze: Erzählt wird die Geschichte zweier Brüder, des zehnjährigen, todkranken Karl, genannt Krümel, und seines älteren, tapferen Vorbilds Jonathan. Nachdem unerwartet zuerst Jonathan und dann Krümel stirbt, sehen sie sich, wie der große Bruder es versprach, in einem idyllischen Tal im Jenseitsreich Nangijala wieder. Von dort müssen sie ausziehen, um das Nachbartal vom grausamen Herrscher Tengil und seiner feuerspeienden, todbringenden Gehilfin, dem Drachenweibchen Katla zu befreien.

Ich bekam das Buch bald nach seinem Erscheinen Mitte der siebziger Jahre geschenkt und habe es seitdem mindestens ein Dutzend Mal gelesen. Nicht vorher und nicht nachher hat mir ein Buch so eindringlich gezeigt, was Geschichten können. Wie sehr sie uns in ihr Fantasiereich und auch in anderem Sinne mitnehmen können, bewies übrigens meine große Schwester, als sie das Buch nach mir las: So mitgenommen war sie von der Lektüre, dass sie sie unterbrechen und sich vor Aufregung übergeben musste.

Ich (kleiner Triumph!) war härter gesotten. Aber auch mich hat das Buch damals förmlich mitgerissen und fortgeschwemmt. Ein uralt anmutendes Märchen, das außer Liebe alles in sich vereinte: Abenteuer, Treue, Verrat, Tod, Ideale. Und wenn ich es recht bedenke, auch Liebe in zarter Andeutung, denn natürlich war ich ‒ zusätzlicher Mädchenbonus ‒ herrlich heimlich in den hübschen Jonathan verliebt! Ansonsten war die Lektüre genau das Richtige für hasenfüßige kleine Mädchen, die (weil die Jungsspiele einfach die interessanteren waren) zwar gerne ein Junge gewesen wären ‒ aber nur so lange, bis es ans Raufen und Verkloppen ging.

Noch einen anderen, für mich ungleich wichtigeren Nerv traf das Buch: Ich war eingeladen, aus sozusagen sicherer Warte über den Tod nachdenken. Der Tod als zentrales Thema in einem Buch für Kinder – das war ungewohnt, daran hatte sich so vor Astrid Lindgren noch kein Autor gewagt. Ich, unsterblich wie die meisten mit neun, liebte zum einen Bücher, die mir vor Augen führten, wie vergleichsweise wohlbehütet ich war. Und doch war auf der anderen Seite der Tabubruch überraschend und aufwühlend.

Bei den beiden Brüdern geht es um den Kampf gegen die eigenen Ängste und für die eigenen Überzeugungen, kurz: darum, über sich hinauszuwachsen, wo nötig. „Es gibt Dinge, die man tun muss, auch wenn sie gefährlich sind. Weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck“ ‒ von diesem seinem Leitsatz weiß Jonathan, dass er zu gewaltig ist, um ihn dem geliebten Bruder vorzuschreiben. So löst Astrid Lindgren auf geniale Weise den Konflikt, dass der Satz zwar allgemeingültig ist, aber allenfalls als persönlicher Imperativ dienen kann. Später, aus dem Mund des kleinen Krümel, der seine Furcht überwindet, indem er dem Bruder dessen eigenes Credo vorhält, hat der Satz gerade für junge Leser mit einer Ader fürs Pathetische einen überwältigenden Klang, und zwar in mehr als phonetischer Hinsicht.

Die Brüder Löwenherz ist für mich bis heute ein im Innersten berührendes Buch, das ich sicher auch noch ein dreizehntes und vierzehntes Mal lesen werde!  

Ihre Kristin Lange

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