Mein Lieblingslied: A Song for Europe von Roxy Music

Ein Lieblingslied? Hm. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist das doch das Lied, das man sich aussuchen würde, wenn man sein Leben lang kein anderes mehr hören dürfte, oder? Nun, es gibt viele Lieder, die ich nicht missen möchte. Dat du min leevsten büst , Lütt Matten de Has … Sowas ist hier aber nicht gemeint, glaube ich.

Dann also A Song for Europe von Roxy Music. In der Studioaufnahme auf dem Album Stranded von 1973, was anderes kommt mir nicht in die Gehörgänge. Denn bei dieser Version kenne ich jeden Ton und jede Wendung und freue mich schon Zehntelsekunden zuvor darauf. Nun war ich nie ein großer Fan von Roxy Music und kann von der Band normalerweise nur sagen, dass sie mich nie gestört hat. Zu schick Bryan Ferry, zu gestylt, weder mein musikalisches noch irgendein sonstiges Beuteschema befriedigend. Ein früherer Kollege drückte es einmal so aus: Ein bisschen Gosse muss sein.

Gosse war nicht bei Roxy Music. Was mich trotzdem an dem Song fasziniert? Die vielen Schichten und Überraschungen, aus denen er besteht. Die Steigerung! Der Anfang langsam, fast schleppend. Bisschen Klavier, bisschen Schlagzeug … Wovon der Text handelt? Vergänglichkeit, Vergessen, die Flüchtigkeit des Augenblicks.

Nach den geradezu tückisch verhaltenen ersten zwei, drei, vier Strophen wühlt sich das Stück zum ersten dramaturgischen Höhepunkt empor. Und lässt sich Zeit dabei. Dann, auf 3:10: Innehalten. Plateau. Ein paar einfache Klavierakkorde, versöhnlich, zart.

Ich bin dahin. Petite mort, so sagt man doch? Und ehe ich weiß, wohin mit mir und allem, schwingt sich plötzlich das Saxofon, das bis dahin meist unbemerkt irgendwo hinten links unten vor sich hin genölt hat, zu Höhen auf und keift, rotzt, flucht gegen – ja, gegen was eigentlich an? Vergänglichkeit, Vergessen, die Flüchtigkeit des Augenblicks. Gegen alles in Bausch und Bogen, und dann geht es weiter im Galopp zum gewaltigen Finale, dem absoluten Sturm der Gef…

Irgs. Wollte ich gerade Sturm der Gefühle schreiben? Nun aber fix ein wenig runtergekühlt. Mal wieder sachlich werden! Also. Mir ist außer A Song for Europe kein Song einer modernen Band bekannt, in dem neben in englischer und französischer auch in lateinischer Sprache gesungen wird. Um was es in den rätselhaft dunklen, archaisch anmutenden Textzeilen wohl geht? Um Vergänglichkeit? Vergessen? Die Flüchtigkeit des Augenblicks gar? Möglich. Ich möchte es aber gar nicht wissen. Ich will dereinst im Nichtbegreifen der rätselhaft dunklen, archaisch anmutenden Worte ins Grab sinken. Ich muss sie nicht verstehen, es genügt mir, sie mitzusingen. Mitsingen, ein gutes Stichwort: A Song for Europe ist das einzige Lied, zu dem ich, ich schwöre, nicht nur zwei-, sondern vielstimmig mitgrölen kann. In Terzen, Quinten, Obertönen, Untertönen und seltsamen, einem einsamen Saxofon nachempfundenen Brummlauten. Doch, das geht! Das ging in den Achtzigern, stranded on the Teppichboden meines WG-Zimmers, halbbetrunken und gerührt, nein: geschüttelt vom unsäglichen Leid unsterblichen Liebeskummers, und das geht noch heute beim Autofahren, bis zu dem Moment, wenn es mit dem Pathos von Jubel und Verzweiflung endlich aus Bryan Ferry und mir herausbricht: Jamais, jamais, jamais, jamais – nein, niemals! Ja, was denn nur? Na, alles: Vergänglichkeit. Vergessen. Der ganze Rest.

Ist doch egal, was. Das schöne Lied ist nun zu Ende. Und Sie, Sie müssen mich entschuldigen. Ich muss mir nämlich sofort Troy von Sinead O’Connor anhören. Ist mir beim Schreiben gerade eingefallen. Mein zweites Lieblingslied. Gründe: dieselben. Nur irgendwie in Mädchen.

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