Monikas schönstes Buchgeschenk oder Seewolf nach Mitternacht

Ich mag die vorbeirasende Dunkelheit. Auch die aufblitzenden, huschenden Lichter. Es ist, als hätten sie es eilig, anzukommen. Wo auch immer. Obwohl ich sie nicht mag, diese Erwartungen, die Weihnachten noch immer in mir auslösen. Erwartungen, die an Kindheit denken lassen, an einen mickrigen Tannenbaum, an Lamettafäden, an eine silberne Spitze, die immer schief obendrauf mit Draht festgemacht war, an die Nervosität meiner Mutter, die mit dem Festtagshuhn kämpfte, und an meinen Bruder, der wie immer grässlich hungrig per Anhalter aus Hamburg kam. In jenen fernen Zeiten wünschte ich mir neben einem Fahrrad und Rollschuhen ein Buch. Letzteres bekam ich. Jedes Jahr. Zwei oder drei davon habe ich noch.

Ich muss umsteigen und die einlullende Wärme des Zugabteils verlassen. Ich habe nicht viel zu tragen. Schon stehe ich auf diesem fremden Bahnsteig, der schnell sehr leer und sehr verlassen ist. Es ist halb zwei, die Nacht scheint lang. Die Anschlagtafel verkündet, dass der Anschlusszug wegen eines Unglücks erst am frühen Morgen eintreffen wird. Ich suche nach der Auskunft, einem Bahnbeamten, nirgends ist einer zu finden. Nach einer Wartehalle suche ich auch und entdecke sie im Untergeschoss, schiebe die Tür auf und setze mich. Hinten in der Ecke döst ein Mann mit einem speckigen Lederhut, den er tief ins Gesicht gezogen hat. Neben dem Schlafenden steht ein Seesack. Eine Weihnachtsgirlande hängt schlapp um die Neonbeleuchtung.

Ich öffne meinen Koffer, fische Printen und Spekulatius hervor. Lieber hätte ich etwas zum Lesen. Was ich dabei habe, kenne ich längst. Ich falle in diese Stille hier unten, und oben, da fahren die Züge. Printen und Spekulatius bringe ich dem Mann mit dem Hut, stelle die Tüten neben ihn. „Danke! Und einen Augenblick!“ Seine Stimme ist tief, angenehm. Mit geschlossenen Augen zieht er den Verschluss des Seesacks auf, greift hinein, zieht etwas hervor. „Bitte! Damit die Zeit nicht ins Endlose fließt.“ Er öffnet die Augen, er lächelt, ein wissendes Lächeln, als kenne er mich und überreicht mir ein Buch im schmutzig-blauen Leineneinband. Wie selbstverständlich nehme ich es, ohne den Titel wahrzunehmen, bedanke mich, wünsche fröhliche Weihnachten, er winkt ab und sagt: „Lies.“

Zurück an meinem Platz, schlägt mein Herz einen Purzelbaum. Ich halte „Der Seewolf“ von Jack London in den Händen. Das kann nicht sein, genauso eins habe ich an einem Heiligabend geschenkt bekommen, als ich dreizehn war. Und ein paar Monate später verloren. Ich habe es so vermisst und mich nie getraut, meinen Verlust laut zu beklagen.

Ich heule in mich hinein. Ich lese und lese. Erinnere mich sofort an die Geschichte von Kapitän Wolf Larsen, an seinen Robbenfänger „Ghost“.

Irgendwann bin ich eingeschlafen. Als ich wach werde, muss ich gucken, wo ich mich befinde. Der Mann mit dem Hut ist fort. Ich sitze allein in dem Warteraum. Davor fegt eine dunkelhäutige Frau ein Stück Bahnhofshalle. Ich halte den „Seewolf“ in meiner Hand, ein Finger liegt auf Seite 113.

Mein Anschlusszug ist weg. Es wird ein neuer kommen. Ich bin fröhlich wie lange nicht und wünsche Wartenden auf dem Bahnsteig schöne Weihnachten.

Den „Seewolf“, diesen von jener Nacht eines 24. Dezembers, den habe ich immer noch, mein schönstes Weihnachtsbuch.

Ihre Monika Detering

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