Schriftsteller oder Hochstapler?

Ich verrate Ihnen heute eine der größten Unsicherheiten meines Autorenlebens: Ich habe keine Ahnung, wie das mit den Ideen funktioniert. Woher sie kommen und warum mir im entscheidenden Moment ein Ort oder eine Person begegnen, die ich brauchen kann und die mir vielleicht sogar die zündende Idee geben, die mir für den Schluss einer Geschichte noch gefehlt hat … ich weiß es einfach nicht. Das Schlimmste daran ist: Es lässt mich daran zweifeln, dass aus mir je eine richtige Schriftstellerin wird. Neidisch höre ich von Kollegen, sie würden Geschichten auf der Straße finden. Ich weiß nicht, auf welchen Straßen die Kollegen sich bewegen – auf denen, auf denen ich unterwegs bin, liegen jedenfalls keine.

Bei mir bleiben unterwegs nur Fitzelchen von Wirklichkeit hängen: die mindestens einhundert Jahre alten Holzregale in einer Drogerie in Lissabon, eine beschädigte Haustür in Berlin, deren Glas aussieht, als sei ein Schuss von ihr abgeprallt, die Brücke über den Friedhof Montmartre. Diese Frau, die oft laut in einer slawischen Sprache schimpfend durch unser Viertel geht, ohne dass irgendwie ersichtlich ist, worüber und wem gegenüber sie sich echauffiert. Ein kleiner Junge auf einem Markt in Kapstadt, der seinem Vater hilft, stolz und hochkonzentriert, wie an der Zungenspitze zwischen den Lippen zu erkennen ist. Die Frau mit der irritierenden Angewohnheit, beim Sprechen immer wieder sekundenlang die Augen zu schließen, als müsse sie sich jedes nächste Wort genauestens überlegen und könne es nur finden, wenn sie nicht von meinem Anblick gestört würde. Ich registriere diese Dinge und Personen, und an wirklich guten Tagen schreibe ich die eine oder andere Beobachtung nieder, aber das vielzitierte Kopfkino springt bei mir nicht an. Jedenfalls nicht so, dass mir die Geschichten dann quasi ohne mein Zutun aus der Feder fließen. Ich kann nur alles ablegen: im Kopf oder Notizbuch, auch wenn es überhaupt nichts mit dem zu tun hat, woran ich gerade arbeite.

Irgendwann passiert es: mein Unterbewusstes verbindet die abgespeicherten Beobachtungen mit den Fragen meines aktuellen Projekts. Vorzugsweise wenn ich augenscheinlich gerade überhaupt nicht damit beschäftigt bin, eine Idee zu suchen – also jogge, schlafe, arbeite oder tue, was man eben den lieben langen Tag so tut. Plötzlich rücken die Dinge an den richtigen Platz: Die Drogerie mit den düsteren Regalen wird in einer Edgar-Allan-Poe-mäßigen Geschichte ein Schauplatz und die angeschossene Haustür in meinem Roman zum Sinnbild eines missglückten Mordversuchs.

Verblüfft schaue ich das Ergebnis an und denke: Das also ist Kreativität?! Dafür bewundern mich Leute, die nicht schreiben? Ich fühle mich ein bisschen wie eine Hochstaplerin, weil ich das Gefühl habe, ich habe ja gar nichts getan, sondern mein Unterbewusstsein hat für mich gearbeitet.

Vielleicht ist das ja das Geheimnis echter Schriftsteller: den Boden bereiten, sich in Geduld üben, dem Unterbewussten vertrauen. Ich arbeite jedenfalls daran.

Geduldige Grüße

Ihre Dorrit Bartel

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