Vor ein paar Wochen saß ich lesender Weise bei meinen Eltern auf der Couch, als plötzlich ein kleiner Pirat vorbeikam. Er war ganz offensichtlich auf dem Weg in ein Seegefecht, denn unter dem Arm trug er „die wilde Uschi“, sein Schiff – übrigens eine Fregatte, wie ich schon wiederholt belehrt worden bin. Außerdem war er bereits in Kampfuniform, einem gewitterblauschwarzem Frotteemantel, gerade würdig eines solchen Schreckens der sieben Meere.
„Ahoi, Seemann!“, rief ich ihn an, woraufhin er stehen blieb und mich gleichermaßen missvergnügt wie abschätzig betrachtete. „Was will diese Landratte von mir?“, schien er zu denken und weil er schlau ist, machte er einen Schritt zurück. Er kreuzt schon lange genug in stürmischen Gewässern, um zu wissen, Gefahren lauern überall und besonders wenn man sich in so ein kuschliges Frotteeträumchen hüllt, steigt das Risiko, von Meerjungfrauen oder Tanten geschnappt und zu Tode geknuddelt zu werden. Vielleicht sah er meinen verschlagenen Blick, vielleicht leckte ich mir unbewusst zur Vorbereitung besonders schleimiger Tantenküsse schon die Lippen, jedenfalls bewegte er sich weiter in Richtung Tür. Aus sicherer Distanz fragte er: „Was liest du?“
Die Frage kam derart unvermittelt, dass sie mich etwas aus dem Konzept brachte – denn ich gestehe, ich hatte geplant, mich mit einem Satz auf ihn zu stürzen und ihn nach allen Regeln der Tantenzunft zu verkitzeln. „Das ist nicht mehr das mit den Einbrechern im Sommer“, stellte er fest und nachdem es also nicht länger Truman Capotes Sommerdiebe war, konstatierte er: „Das ist ein neues. Worum geht es?“
Himmel, worum geht es bei „Die Brüder Karamasow“? Ich lese das Buch inzwischen zum dritten Mal und kann es nicht wirklich sagen. Um Liebe und Hass, um Schuld, Mord und Sühne, um Geschwister, die verschiedener nicht hätten sein können, um Gott und Atheismus, um die Brüche in der menschlichen Seele, um das Wachstum am Scheitern, um gerechte und ungerechte Strafe – Himmel, worum geht es in diesem Buch? Und wie erkläre ich das einem Fünfjährigen? Einem Fünfjährigen, der gern über die großen Fragen der Menschheit nachdenkt – mit eher ungewissem Endergebnis. Beispiel gefällig? Als ich ihm erklärte, unsere Katze dürfe Mäuse ohne Polizeistrafe töten, denn sie würde sie ja fressen, nickte er und ließ es gut sein. Ungefähr eine Woche war ich sehr mit meiner schlauen Antwort zufrieden – dann fragte mein Vater mich, ob ich dem armen Jungen diese kranken Ideen eingepflanzt hätte? Mein Fünfjähriger hatte sich vertrauensvoll an seinen Opa gewandt und sich erkundigt, ob man einen getöteten Menschen roh verspeisen müsse und ob man Besteck dafür verwenden dürfte. Noch einen Fall von Kannibalismus wollte ich nicht provozieren, also antwortete ich vorsichtig: „Es ist eine Familiengeschichte. Es geht um Brüder, die sich mit dem Vater streiten.“
„Kommen Dinosaurier vor?“
Ich verneinte.
Dafür bot ich an: „Aber ein Diebstahl und eine Flucht aus dem Gefängnis.“
Gänzlich unbeeindruckt folgte die nächste Frage: „Gibt es Ritter?“
Ich schüttelte den Kopf. Das runde Gesicht wurde lang und länger.
„Wenigstens Piraten?“
Ich musste auch die letzte Hoffnung enttäuschen. Der kleine Kopf wurde angewidert hin und her geworfen. Nicht einmal Piraten! Und seine Augenklappe aus der Bademanteltasche kramend, erklärte mir mein Pirat entschwindend:
„Das ist ein doofes Buch. Lies besser was Gescheites. Versuch’s doch mal mit Peter Hase.“
Ihre Joan Weng