Zhadan oder Hemingway?

von Jürgen Block

Für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet, hat der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan 2022 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommen. Um diese Humanität genauer zu fassen, möchte ich eine Textstelle aus Zhadans Roman Internat (2017, deutsch 2018) mit der Short Story Alter Mann an der Brücke (1938, deutsch 1950) von Ernest Hemingway vergleichen.

Bei Hemingway tritt ein alter Mann auf, der sich während des Spanischen Bürgerkriegs (1936 bis 1939) auf der Flucht vor den Faschisten erschöpft an einer Brücke über den Ebro niederlässt. Der Erzähler, der auf Seiten der Internationalen Brigaden Aufklärungstätigkeiten ausübt, kommt mit ihm ins Gespräch und erfährt, dass der Mann sich um seine Tiere sorgt, die er auf der Flucht zurücklassen musste. Sein einziger Trost ist, dass zumindest die Katzen auf sich selbst gestellt sind und sich dem Leben unter den Faschisten anpassen und sie überleben können. Der letzte Satz lautet:

„Es war ein grauer, bedeckter Tag mit tiefhängenden Wolken, darum waren keine Flugzeuge am Himmel. Das und die Tatsache, dass Katzen für sich selbst sorgen können, war alles an Glück, was der alte Mann je haben würde.“

In Zhadans Internat-Roman gibt es eine vergleichbare Szene, in der alte Männer während des Bürgerkrieges in der Ostukraine (zwischen 2014 und 2022) aus einer belagerten Stadt (wohl Charkiw) flüchten. Der erste Flüchtling, der von den Soldaten der ukrainischen Armee in Empfang genommen wird, „reckt (…) plötzlich die Faust gen Himmel und schreit los, als schelte er die Götter für ihr schlechtes Benehmen. Er flucht, droht, wütet (…) und kreischt etwas von Ungerechtigkeit und Rache, dass die Stadt aufgegeben wurde (…) und dass man sie in fremde Hände hat fallen lassen. (Er schreit so lange, bis) ein Soldat sich an ihn heranschiebt und ihm einfach eins auf den Schädel gibt, halt’s Maul.“

Im Ungewissen bleibt, ob unter „fremde Hände“ nur die russische Armee oder auch die russischsprachige Bevölkerung der Ostukraine gemeint ist. Bei Hemingway sind die Feinde aufgrund ihrer politischen Einstellung präziser bezeichnet: als Faschisten.

Weitere Unterschiede liegen auf der Hand: Hemingways alter Mann ist frei von Rachegelüsten, ganz auf seine persönliche Tragödie konzentriert, lässt sich von Gleich zu Gleich zu einem Gespräch mit dem Offizier ein und kann seiner Sorge um die Tiere Ausdruck geben. Trotz allen Elends und der unmittelbaren Lebensgefahr hat er Mitleid mit anderen Lebewesen, was auf eine Zukunft hoffen lässt, in der Faschisten die Macht in Spanien verlieren (ab 1977) und auch wieder friedliche Lebensverhältnisse möglich werden.

Zhadans Roman bevölkern dagegen recht mitleidlose Personen voller Racheflüche, Revanchegeschrei und Gewaltbereitschaft. Dies ist eine menschlich nachvollziehbare und naturalistisch gestaltete Kriegsszene – aber zeigt sich darin die preiswürdige humanitäre Haltung des Erzählers? Wie ist aufgrund dieser so dargestellten Ausgangslage ein Frieden in Zukunft möglich? Und welche Aufgabe soll die Literatur, speziell dieser Roman dabei übernehmen?

Auch in der Bewertung der Barbarei des Krieges unterscheiden sich beide Texte.

Bei Hemingway zerstört der Krieg den alten Mann bis auf einen Rest an Glück, Hoffnung und Mitleidsgefühlen, der nicht wegen, sondern trotz des Krieges besteht und der es letztlich dem Erzähler ermöglicht, diese Short Story zum Nutzen für die Nachwelt zu erzählen. So ist in Hemingways Geschichten der Friedensgedanke zentral. Dagegen versucht Zhadan in der Dankesrede für den Friedenspreis dem „große(n) Krieg“gegen Russland selbst etwas Positives abzugewinnen. Er zitiert einen Kameraden, der verwundet aus dem Gefecht gekommen ist:

„Die Russen haben Phosphorbomben abgefeuert, mich hat’s erwischt. Halb so wild, bin gesund und munter. Bald geht’s zurück an die Front.“

Der Kamerad ist wegen der erlittenen Kriegsverbrechen und Verwundungen nicht etwa traumatisiert, er scheint sich am Gefecht geradezu erbaut und erfrischt zu haben. Zhadans Kommentar:

„In so einem Moment weißt du nicht, was du sagen sollst – die Sprache lässt dich im Stich.“

Aber dieser Sprachverlust ist kein Verstummen angesichts der Barbarei, sondern angesichts des vermeintlich kulturstiftenden Segens des Krieges, dessen Vorzeichen in Verhalten und Sprache des Kameraden erkennbar seien. Die Kriegserfahrungen sollen zur Erneuerung und Wiedergeburt der ukrainischen Sprache und damit auch der Nation führen:

Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste, was uns allen passieren kann.

Krieg als wichtigstes Mittel der Kultur: Was bleibt da an wirklicher humanitärer Friedenshaltung übrig?

Ihr Jürgen Block

Teilen: