Ärgern für eine Ewigkeit oder von einem Besuch auf dem Wilmersdorfer Friedhof

 

Der Flohmarkt am Fehrbelliner Platz.

Auf dem Flohmarkt am Fehrbelliner Platz hatte ich ausreichend Beute gemacht und überlegte nun, was ich mit der restlichen freien Zeit noch anfangen könnte, bevor ich spätnachmittags wieder mit Enkel und Familie zusammentraf. Ich könnte mich irgendwo hinsetzen und einen Kaffee trinken, oder mir ein kleines, feines Restaurant mit vegetarischem Angebot suchen. So richtig Hunger hatte ich aber noch nicht. Ein Blick auf die Karte in meinem iPhone zeigte mir, dass ich nicht weit entfernt vom Wilmersdorfer Friedhof war. Nun gut, das war eine Option. Da wollte ich bei Gelegenheit sowieso mal vorbei. Ein Grab stand auf der Liste derjenigen, die ich besuchen wollte. Also marschierte ich los. Ich schätzte etwa 20 Minuten Fußweg und verzichtete deshalb auf den öffentlichen Nahverkehr, brauchte aber, weil ich in Bummellaune war und hier und da gucken musste, doch eine halbe Stunde. Erfreulicherweise war das Grab, das ich suchte, auf einer Liste am Eingang vermerkt, allerdings rätselte ich vor dem Übersichtsplan, weil sich die bezeichnete Nummer nicht gleich finden ließ. Und überhaupt – was meinten die mit Wand B und Nische 123?

 

Der Wilmersdorfer Friedhof.

So schlenderte ich die Reihe der alten Gräber entlang, schaute mir interessiert die Namen an, die alle nach vergangenen Geschichten klangen, bog rechtzeitig vor den neuen Gräbern ab und kam zu einer weiteren Reihe alter, die ich beschloss, erst von außen abzugehen und dann von innen. Dabei bemerkte ich, dass die Friedhofskapelle ziemlich groß ausfiel. Beim Näherkommen erkannte ich eine an die Kapelle angeschlossene Anlage, die eine Art Vorhof schuf, ähnlich den Kreuzgängen in den Klöstern. Da gibt es genug Wände, überlegte ich, wenn, dann finde ich dort jene Wand B und das gesuchte Grab. Tatsächlich handelte es sich um eine Urnenanlage von einem Ausmaß, wie ich sie bislang nur aus Südeuropa kannte. Neugierig ging ich durch die erste Tür und folgte dem Gang, bis ich die bezeichnete Nummer fand. In dem kleinen Raum waren viele Grabtafeln an den Wänden angebracht. Die gesuchte konnte ich jedoch nicht ausmachen. Allerdings sah ich nun, dass die Anlage nicht nur längs Raum für Raum durchschritten werden konnte, sondern auch nach innen weitere Räume und eine Art kleinerer Kreuzgang folgten. Neugierig ging ich die Stufen hinunter und traf am Ende des Ganges die Tafel des Grabes, das ich suchte. Erfreut machte ich gleich ein paar Fotos, ehe ich mich weiter umsah.

 

Die Urnenhallen haben ein enormes Ausmaß.

Rechts in der Ecke stand ein etwas älterer Herr in etwas ungewöhnlicher Kleidung. Schnürschuhe, die bis über die Knöchel gingen, Strümpfe, die bis in den oberen Teil der Waden reichten, Knickerbocker, eine maßgefertigte, aber schon etwas abgetragene Jacke, bis obenhin zugeknöpft, wilhelminischer Schnurrbart, spitz nach links und rechts auslaufend, Drahtbrille auf mächtiger Knollennase, eine Stirn bis zur Mitte des Kopfes. Das Haar, das den Rest des Kopfes bedeckte, könnte einen Schnitt durchaus gebrauchen. Dazu paffte er eine dicke Zigarre. War rauchen denn hier erlaubt? Doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, stieß er den Zigarrenrauch durch die Nase aus und sagte:

„Auf Sie habe ich schon gewartet. Wurde auch Zeit, dass Sie endlich kommen.“

„Sie haben doch alle Zeit der Welt, Herr Zobeltitz“, sagte ich.

„Ich habe zwar die Ewigkeit für mich, sozusagen, aber schön ist es nicht, sich solange zurückhalten zu müssen.“

„Aber interessant finde ich es schon, dass Sie ausgerechnet auf mich warten“.

„Es gibt da noch einige andere, das stimmt, etwa die, die mir das Ehrengrab der Stadt Berlin wieder aberkannt haben, aber jetzt nehme ich mal vorlieb mit Ihnen.“

„Halten Sie sich nicht zurück“, sagte ich. Meine Neugierde war so groß, dass ich näher trat.

„Kommen Sie mir nicht zu dicht heran“, sagte er und hob abwehrend die Hand. „Ich kann sonst für nichts garantieren.“

„Stimmt“, sagte ich und trat wieder zurück. „Sie waren beim Militär und da war man leicht mit Duell-Forderungen bei der Hand.“

„So ist es“, schnaubte er und paffte wieder an seiner Zigarre.

„Sie hatten sich ja schon als Knabe dem Militär verschrieben, die Kadettenschule besucht, mit 16 als Fähnrich im Heer gedient und später dann als Ulan.“

„Immerhin wissen Sie gut Bescheid“, knurrte er, aber es klang schon etwas freundlicher.

„Mit 23 hatten Sie keine Lust mehr, quittierten den Dienst und gingen auf das Gut Ihres Vaters, nach Spiegelberg, das heute Poźrzadło heißt.“

Nische 123 trägt die Grabtafel von Fedor von Zobeltitz.

„Mein Vater war alt. Ich ging ihm als Verwalter zur Hand“, rechtfertigte er sich.

„Viel Arbeit scheint es aber nicht gewesen zu sein, denn Sie schrieben damals ja schon recht viel für diverse Journale – sogar für Frauenzeitungen.“

„Na und? Ist das was Anrüchiges? Lassen Sie diese Anspielungen. Wenn das jemand hört, bekommen Sie mächtig Ärger, werden wegen sexistischer Äußerungen fertiggemacht, bekommen Mailsturm und was weiß ich, was es heutzutage nicht alles gibt.“

„Herr von Zobeltitz – Sie haben den anerkennenden Ton überhört, in dem ich das gesagt habe. Meine Bewunderung geht sogar noch weiter: Sie waren später sogar Chefredakteur der Illustrierten Frauenzeitung.“

„Stimmt“, brummte er. „Man muss ja von etwas leben.“

„Jetzt sind Sie aber nahe dran, bei den Damen in Verruf zu geraten“, lachte ich. „Die üblichen Literatensorgen hatten Sie nicht. Die Einnahmen aus dem väterlichen Gut kamen Ihnen zu und wurden durch Ihre vielfältigen journalistischen und schriftstellerischen Einnahmen gut ergänzt.“

„So viel war das nun auch wieder nicht. Da gab es andere, die auf richtig großem Fuß lebten.“

„Immerhin konnten Sie sich viele Reisen leisten, zunächst durch Europa, später in die ganze Welt. Außerdem hatten Sie sich ein nicht gerade billiges Hobby ausgesucht.“

„Mit etwas muss der Mensch sich ja beschäftigen.“

„Aber als Bibliophiler hatten Sie schon größere Ausgaben. Antiquarische Bücher sind nicht unbedingt preiswert und die Bibliotheken, die Sie aufbauten waren beachtlich.“

„Alles ausgewählte Werke, alles lesenswerte und meist auch sehenswerte Bände. Und wie Sie schon sagten: Antiquarisch und ehrlich erworben und nicht wie andere Leute das tun, aus der Tonne geholt.“

„Aber bei fliegenden Straßenhändlern, die damals mit Bücherkarren durch Berlin zogen, haben Sie sich auch bedient, nicht wahr?“

Er nickte und paffte weiter an seiner Zigarre.

„Vielleicht haben Sie den einen oder anderen, der nicht so genau wusste, was die Bücher wert waren, übers Ohr gehauen?“

Er schüttelte den Kopf und sah beiseite.

„Im Zweifel gilt die Unschuldsvermutung“, sagte ich. „Glauben wir mal, dass Sie ehrlich immer den richtigen Preis gezahlt haben. Immerhin haben Sie später Ihre Bibliotheken höchstbietend versteigert.“

„Wie sie schon sagten, ich bin viel gereist. Dazu braucht man Geld.“

Die Urnenanlage ist nicht nur weitläufig, sondern auch stimmungsvoll.

„Nun sind aber Sie dran. Weshalb haben Sie auf mich gewartet? Wofür wollten Sie mir die Meinung sagen.“

Er hielt den Arm mit der Zigarre etwas von sich, streckte sich, stand militärisch stramm da, sah mir fest in die Augen.

„Haben Sie nicht geschrieben, ich hätte bei meiner Kriminalnovelle Czentowo geschludert, hätte einen schwachen Schluss geschrieben, mir keine Mühe mehr gegeben, die Geschichte ordentlich zu Ende zu bringen und deshalb eine unglaubwürdige Auflösung hingeschmiert?“

„So habe ich es, glaube ich, nicht formuliert.“

„Aber in der Sache stimmt es doch, nicht wahr?“

„Durchaus.“

Er holte tief Luft, ließ sie langsam wieder heraus und – sagte nichts.

„Und was war da jetzt falsch?“, fragte ich nach.

„Es hat mich verletzt!“, behauptete er.

„Stimmt es denn nicht?“

Er schüttelte den Kopf, ließ den Zigarrenrest fallen und trat mit dem rechten Schuh drauf.

„Es geht ja nicht nur um den Schluss. Die Geschichte hat ja einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – und eine Dramaturgie. Und die ist nicht geschludert.“

„Zugegeben.“

„So groß waren die Honorare nicht, die die Stuttgarter dafür zahlten. Da ist dann natürlich auch die Zeit begrenzt, die man dafür einsetzt.“

„So dachte ich mir das auch.“

„Und dann schreiben Sie so etwas?“

„Sie sagen doch selbst, dass ich nicht ganz falsch liege.“

„Es wäre doch gerecht gewesen, den Blick aufs Ganze zu lenken und vielleicht andere Dinge herauszuarbeiten. Sehen Sie, ihre Kollegin aus Ludwigsburg, die hat etwas ganz Feines gesagt: es wäre der stimmungsvollste Anfang, den sie seit langem gelesen hätte. Das rechne ich ihr hoch an. Wenn ich könnte, würde ich ihre Bücher in einer Frauenzeitung ordentlich vorstellen und loben. Immerhin spielen sie in Berlin in den zwanziger Jahren, da kenne ich mich gut aus. Gut getroffen hat sie das alles, obwohl das mit dem schwulen Kommissar … nun ja, es ist ja eine andere Zeit heute, da mag das durchgehen.“

„Ich werde es ihr ausrichten, ich glaube sie wird sich freuen.“

Irgendwoher hatte er eine neue Zigarre und paffte schon wieder.

„Vielleicht schreibe ich demnächst etwas Nettes über Sie, Herr von Zobeltitz. Möglicherweise im Blog der Zweiundvierziger.“

Er winkte ab, flüsterte ein schwaches „Nicht nötig, nicht nötig“, verblasste und war schon verschwunden, bevor ich es richtig begriffen hatte.

Ich ging daraufhin die ganze Urnenanlage ab, suchte schließlich den Rückweg über den Friedhof zum Haupttor und machte mich auf den Weg, um pünktlich zum vereinbarten Treffpunkt mit Enkel und Familie zu kommen. Fedor Karl Maria Hermann August von Zobeltitz ging mir aber noch eine ganze Weile nicht aus dem Kopf. Sollte ich die Anmerkungen zu der Novelle „Czentowo“, die ich herausgegeben hatte, ändern? Nein, beschloss ich schließlich. So negativ sind die gar nicht. Allein dass ich die überhaupt noch für lesenswert halte, ist ja schon ein Lob und das Anmerken einer Schwachstelle (zumindest meiner Meinung nach) degradiert die Erzählung ja nicht grundsätzlich. Er wird damit leben müssen dachte ich, zumindest so lange, bis seine Ewigkeit im Jenseits vergangen ist.

Fedor von Zobeltitz

Ihr Horst-Dieter Radke

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