von Amos Ruwwe
Es ist Frühling. Endlich. Die Bäume werden grüner, auch der Lieblingsbaum der Familie. Vor Jahren wohnten wir in Südkorea unter einem mehrere Jahrhunderte alten riesigen Ginkgobaum. In jeder Stadt, in jedem Land finde ich seitdem diesen markanten Baum. Auch in Berlin-Friedrichshain habe ich ihn entdeckt, als ich mal wieder die Enkel besuchte. Zusammen mit dem Enkelsohn bin ich zu seinem Bolzplatz gegangen. Was sehe ich da? Meinen Lieblingsbaum. Der Enkel kennt meine Leidenschaft, Ginkgobäume zu züchten. Diesmal lernte er etwas Neues. Dieser Baum trug nämlich Früchte. „Vorsicht, nicht anfassen, die stinken fürchterlich! Den Geruch wirst du so schnell nicht wieder los. Aber wir werden seine Nüsse sammeln. Beim nächsten Mal nehmen wir Einmalhandschuhe mit, dann kannst du auch die Ginkgofrucht anfassen.“
Der nächste Besuch beim Bolzplatz war lustig. Opa und Enkel zogen wie beim Tatort erst einmal die Einmalhandschuhe an und sammelten die gelben, übel riechenden Nüsse. Gut eingepackt fuhr ich mit meiner kostbaren Fracht zurück nach Hause. Die gesammelten Früchte wurden in einen kleinen Blumentopf gesteckt, und siehe da, im folgenden Jahr kam ein kleiner Ginkgobaum heraus. Die Enkelkinder freuten sich über die kleinen Pflänzchen, als sie mich das nächste Mal besuchten.
Es wurde Herbst, und der Opa besuchte seine Enkel dieses Mal nicht in Berlin. Dafür ging der Vater mit seinem Sohn zu dem Baum und erzählte später davon. Die strengriechenden Früchte sammelten sie in eine gut abschließbare Dose. „Was sammeln Sie denn?“, fragte eine alte Dame neugierig. „Mein Opa pflanzt die ein und hat schon ganz viele Ginkgobäume daraus gemacht“, erzählte der Junge der Dame stolz. „Ach, ich wusste gar nicht, dass ein Ginkgobaum Früchte trägt.“ „Nur die weiblichen Bäume“, sagte der Vater. Die Dame erzählte daraufhin, dass sie als fünfjähriges Kind eine Kette mit einem Ginkgoblatt geschenkt bekommen habe, die sie noch immer besitze. Seit 1945 wohne sie in dieser Straße. Wann der Baum gepflanzt worden sei, daran könne sie sich nicht mehr erinnern, das müsse schon sehr lang her sein. „Muss auch“, pflichtete der Vater ihr bei, denn der Ginkgobaum bekommt überhaupt erst nach dreißig bis vierzig Jahren Blüten, also auch Früchte. „Sie kennen sich aber gut aus“, sagte die Frau. „Von klein auf hat mein Vater mir Geschichten zu dem Baum erzählt, so kenne ich mich jetzt auch schon gut aus.“ All die Jahre von 1945 bis heute habe sie sich an diesem Baum erfreut, sagte sie. „Wenn Sie Ihren Vater wieder sehen, könnten sie ihn mal fragen, ob er mir einen Nachkommen von diesem Baum schenken würde?“
Einige Wochen vergingen, die Enkelkinder kamen zu Besuch, und der Sammlerenkel suchte sich den schönsten kleinen Baum beim Opa aus, schließlich hatte er die Ginkgonüsse selbst aufgesammelt. Gemeinsam mit dem Vater besuchte er die alte Dame und überreichte ihr den kleinen Ginkgobaumsetzling: ein Kind von ihrer Straße.
Vater, Sohn, Opa und die ganze Familie haben inzwischen regelmäßigen Kontakt mit der neuen Baumbesitzerin. „Jeden Tag freue ich mich über das Bäumchen. Wissen Sie, ich bin jetzt schon siebenundachtzig und habe mir immer einen Ableger von unserem Baum gewünscht. Ich wusste nur nicht, wie ich das machen sollte. So war das einfach schön, Sie und Ihre Familie zu treffen.“