Lessings Schaf von Jürgen Block

Je kriegsverrückter die Zeiten, desto wertvoller die alten Tierfabeln, wie diese hier: „Zeus und das Schaf“ von Gotthold Ephraim Lessing aus dem Jahr 1759. Darin beklagt sich das Schaf bei Zeus, dass es wegen seiner Wehrlosigkeit von anderen Tieren so viel Unrecht erleiden müsse. Zeus bietet an, es mit Reißzähnen oder Fußkrallen aufzurüsten. Letztlich winkt das Schaf ab. Beide formulieren ihre unterschiedlichen Einstellungen.

Zeus sagt, dass Tiere sich wehren müssten, mit leichten und schweren Waffen, um Schaden von sich und ihren Werten abwenden zu können.

Aber das Schaf will dieses Spiel nicht mitspielen und bleibt am Ende wehrlos. Begründung: „Denn das Vermögen, schaden zu können, erweckt, fürchte ich, die Lust, schaden zu wollen; und es ist besser Unrecht leiden als Unrecht tun.“

Vertritt das Schaf hier den Standpunkt eines zahnlosen Pazifismus?

Häufig wird diese Fabel so verstanden, dass Zeus für Kirche und Klerus steht und das Schaf für das feige Bürgertum, das sich der Angriffe des tierischen Adels nicht zu erwehren traut.

Aber wir wollen die Fabel mal auf unsere Gegenwart beziehen und gucken, was dabei herauskommt.

Zeus’ Begründung für die Aufrüstung der Tiere könnte heutzutage in jeder Qualitätszeitung stehen. Dahinter steckt die Auffassung vom „Naturzustand“, wie sie Thomas Hobbes in seinem Hauptwerk „Leviathan“ (1651) vertritt: Der Krieg aller gegen alle.

Wenn man mal annimmt, dass der Krieg wirklich der Normalzustand sei, dann bliebe uns tatsächlich nicht anderes übrig, als ständig aufzurüsten und uns gegenseitig mit Tod, Teufel und Vernichtung zu drohen und zu überziehen.

Für Hobbes selbst allerdings wäre ein solches Leben überhaupt nicht lebenswert, weshalb er sich auch einen absoluten König herbeiwünscht, der mit eiserner Faust den Streit schlichtet und für Sicherheit und Frieden sorgt.

In Lessings Fabel herrscht Zeus allerdings nicht als absoluter König, sondern als Gott, der eine Art selbstregulierendes Gleichgewicht von wehrhaften und wehrlosen Tieren erschaffen hat.

Wenn das Schaf nun sagt, dass es besser sei, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun, also die Schlachtbank der Notwehr vorzuziehen, dann scheint dies nur auf den ersten Blick eine törichte Auffassung zu sein. Denn auch das Schaf hat seinen Hausphilosophen. Gottfried Wilhelm Leibniz sagt in einer Definition zur Rechts- und Gesellschaftstheorie (1677/78), man solle niemals so handeln, dass „mit aller Wahrscheinlichkeit in der Gesellschaft mehr Schlechtes als Gutes herbeigeführt wird“.

Für Leibniz ist die Welt von gegensätzlichen Bestrebungen durchkreuzt, die sich zu einem Gleichgewicht ausbalancieren müssen, damit das Ganze sich nicht selbst zerstört.

Aufgrund der Tatsache, dass sich die Welt in den Jahrmillionen, seit es Atome, Menschen und Fabeln gibt, noch nicht selbst vernichtet hat, kann man sagen, dass das Schlechte zumindest nicht überhandnimmt. Indem das Schaf es ablehnt, Unrecht zu tun und Schaden zu verbreiten, schaltet es sich in den Weltlauf ein und vermehrt das Gute. Dabei muss es nicht einmal aktiv handeln, sondern es braucht seine Aufrüstung zum Raubtier nur zu unterlassen.

Das kommt dabei heraus, wenn man dialektisch denkt. Während das Kriegsdenken nur noch Feinde kennt, die sich gegenseitig die Köppe einschlagen, denkt das Schaf die Welt dialektisch als Einheit der verträglichen Gegensätze, als Welt der Koexistenz.

Moral: Vergiss Zeus, sei lieber wie Lessings Schaf, vermeide Unrechtes und lass diese Fabel wirklich werden.

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