Amos im Land der Ginkgobäume

Ein Gastbeitrag von Amos Ruwwe

Meine Leidenschaft für Ginkgobäume habe ich vor etlichen Jahren in Korea entdeckt. Jetzt, im Oktober 2023, sehe ich sie wieder. Diesmal haben sie ihr goldenes Herbstkleid an. Seoul ist laut. Nur weg hier! Mit dem schnellsten Zug, KTX, ab nach Yeosu. Wer die koreanische Sprache nicht spricht, ist aufgeschmissen. Manches ist in Englisch ausgeschrieben, manches nicht. So sind etwa die Speisekarten nur in touristischen Hotspots mit englischem Untertitel zu finden. Mein Koreanisch ist ziemlich eingerostet. Glücklicherweise sind in meiner kleinen Reisegruppe zwei dabei, die fließend Koreanisch sprechen. Auf dem Programm steht der Hwaeomsa Tempel. Oktoberwetter: blauer Himmel, 20 Grad. Der Anstieg am Morgen ist gut begehbar, es geht immer aufwärts, doch schon komme ich ins Schwitzen. Die Tempelanlage ist groß, und es gibt viel zu sehen. Inzwischen ist es irgendwie halb drei geworden. Der wichtigste Teil des Tempels liegt noch etwa dreihundert Meter höher, in der Beschreibung steht klar und deutlich: steil und holprig. Ob ich mir das zutraue? Für die anderen in der Gruppe stellt sich die Frage gar nicht. Die zwei Jungs, acht und zwölf Jahre alt, laufen schon mal los. Auch die restlichen Erwachsenen ermuntern mich, mitzukommen: „Du läufst in deiner eigenen Geschwindigkeit, wir warten oben auf dich“.

Na gut, ich gehe los, in meinem Rhythmus. 천천히, Tsonsoni, wie man in Koreanisch sagt, immer gemächlich alles angehen. Trotz aller Einschränkungen, vom Herzkasper bis zur Gehbeschränkung, bewege ich mich langsam, aber stetig dem Ziel entgegen. Die Jungs spielen etwas am Bachlauf, die Eltern stehen dabei, die Großmutter oft mit ihnen, irgendwann bin ich alleine. Die Beschreibung stimmt, es ist holprig und steil. Meine Zweifel, ob ich überhaupt oben ankommen werde, werden größer. Durch Bambuswälder geht es aufwärts. Einer der Jungs schnitzt einen Stecken für mich. Gute Idee. Mit dem Stock in der Hand steige ich die letzten hundert Meter aufwärts. Es ist wirklich eine Herausforderung für mich, aber am Ziel werde ich mit einer unvergleichbaren Weitsicht belohnt.

Dazu gibt es einen Sonnenuntergang in dieser traumhaften Anlage. Ich bin erschöpft, aber den Tränen nahe, so ruhig, so schön, oh – wenn da nicht da der Abstieg wäre. Die Jungs zeigen keine Spur von Müdigkeit, die Sonne ist weg, spätestens in einer Stunde ist es dunkel. Zwei Stunden hat es hierher gedauert, kurze Beratung, Abstieg, aber flott, in der Dunkelheit will keiner über Stock und Stein hinunterlaufen. Meinen Bambusstab fest in der Hand, die Augen vor mir auf dem Weg gerichtet, gehe ich nun abwärts. Das klappt erstaunlich gut. Unten angekommen, ist es fast dunkel. Beim Gang durch die Tempelanlage entdeckt unsere koreanische Begleiterin, dass es Abendessen für die Mönche gibt. „Können wir bei Ihnen zu Abend essen?“, fragt sie einen Mönch an der Essensausgabe, wohl wissend, dass jeder im Tempel frei mitessen kann. Der gefragte Mönch holt die Küchenchefin, die sagt, dass es heute nicht gehe: „Wir kochen immer nur so viel Reis, wie wir essen können, für sechs Leute ist das zu wenig.“ Kaum hat sie das verkündet, entdeckt sie mich und die restliche Gruppe, allesamt keine Koreaner, auch zwei Kinder darunter. Nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Küchenpersonal verkündet die Küchenchefin, der Reis würde für uns reichen. Ausländer essen ja nicht so viel Reis wie Koreaner. 어서 오십어서 오십 中오 (eoseo osipsio) lädt uns nun der Mönch ein, gibt jedem eine große Holzschüssel, sagt dabei, jeder solle nur so viel Essen in seine Schüssel geben, wie er aufessen kann. Es darf kein Rest in der Schüssel bleiben. Tatsächlich komme ich als Letzter zum Reistopf, für meine Portion ist es noch genug, aber dann ist alles weg. Vorbei geht es an einem Tisch mit 반찬, Banchan, also diversen Kleinigkeiten wie Kimchi oder Sojabohnensalat. Jeder nimmt sich mit Augenmaß davon, denn alle wissen, die Schüssel muss am Ende leer sein. Nachdem wir alle unsere Reisschale mit Banchan gefüllt haben, bekommt jeder vom Ausgabemönch eine neue Holzschale für die Suppe. Der Mönch begleitet uns an unseren Platz.

Die nächste Regel ist das Tischgebet, und dass beim Essen nicht gesprochen wird. Unsere koreanisch sprechende Mitreisende spricht das Tischgebet – schweigend essen wir. Zum zweiten Mal bin ich den Tränen nah. Was für ein Tag! Aufgegessen. Mit einem Schluck Wasser, das steht immer auf jedem Tisch, werden die Schüsseln etwas geschwenkt, damit tatsächlich alles leer ist. Der letzte Rest in der Schale wird dann getrunken. Jeder nimmt seine Stäbchen und den Löffel, die benutzten Schalen, spült draußen seine Sachen sauber und stellt sie ins Regal. Wir verbeugen uns vor dem Mönch, bedanken uns in Koreanisch. Auch die Küchenchefin kommt dazu, noch mal Verbeugung. Der restliche Weg ist sehr leicht. Morgens hatte ich Sorge, ob ich genügend Kondition hätte, diese Tour zu bewältigen. Am Ende des Tages denke ich an den Spruch: „Das Wollen ist das Geheimnis des Könnens“, oder wie einer der Gruppe sagt: „Vielleicht bis du heute ein bisschen näher an deine Erleuchtung gekommen.“

Ihr Amos Ruwwe

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