Es war nicht das Haus der Großeltern Chrichton, aber es sah ihm sehr ähnlich, wie eine kleine Schwester der großen. Jess’ Herz schien in ihrem Hals zu schlagen, während sie langsam die Stufen zum Eingang erklomm. Als sie mit dem alten, massiven Klopfer gegen das Messingschild schlug, gab die Tür nach. Jess blinzelte überrascht, schob sie ein kleines Stück auf und drückte sich durch den schmalen Spalt.
Auch die „große Halle“ erinnerte sie an das Chrichton-Haus, selbst der Geruch, nur schien hier alles etwas verrutscht und verschoben – und kleiner. Langsam schien das Haus zu erwachen, der Geruch belebte sich. Jetzt war deutlich das Stimmen einer E-Gitarre zu hören, angerissene Bassriffs, das Becken eines Schlagzeugs. Sie folgte den Klängen zu einem der Zimmer, die links von der Halle abgingen.
„High, Jess!“ JJ lächelte sie über seine Gitarre hinweg an. Der Arsch hatte es tatsächlich geschafft. Er hatte wieder eine Band. Das heißt, eigentlich war er gar nicht so’n Arsch gewesen. Und sie hätte sich vielleicht für ihn freuen müssen, dass er wieder Musik machen konnte, aber das fiel ihr halt schwer.
Die Band spielte die ersten Akkorde eines alten Songs an, den Jess’ Vater schon immer gehört hatte. Sie kannte ihn, wusste aber nicht, wie er hieß. Öde. Loser-Mucke. Also zumindest für einen Typen wie JJ. Sie wandte sich um und stieg die Treppe hinauf. Sie steuerte – wieso auch immer – geradewegs auf Granny Chrichtons Nähzimmer zu. Also, wenn das hier das Chrichton-Haus wäre.
Der Schock nagelte sie auf der Schwelle fest. Dort, in Granny’s Nähzimmer, saß auf einem Lehnstuhl wie auf einem Thron: Jen. Ihre große Schwester. An ihren Ohren baumelten die Ohrringe, wegen denen Jess sich so derbe und anhaltend mit ihrer Ma gestritten hatte.
„Jen!“, schrie Jess, und aus ihren Augen schossen die Tränen.
„Bleib weg!“, rief die große Schwester.
„Jen! Ich wusste, dass du nicht tot bist, ich wusste, dass du …“ Jess ignorierte, dass ihre Schwester ein Kopfschütteln andeutete.
„Sieh an, sieh an!“, hörte Jess in ihrem Rücken und wirbelte herum. Martin Sharp lehnte lässig an der Wand des Flures und grinste sie an. Links neben ihm stand ein Typ mit einer Kamera auf der Schulter, rechts von ihm hielt ein anderer ein gigantisches Mikrofon in die Luft.
„Fuck! Was machst du jetzt hier?“
„Fernsehen. Einen Dreh.“
„Was für einen Dreh?“
„Deinen Sprung von Topper’s House!“
„Bullshit! Warum sollte ich springen? Die neunzig Tage sind längst rum. Die Krise vorbei. Ich bin nicht mehr gefährdet“
„Neue Krise“, erklärte Martin lakonisch.
„Es ist hier ein bisschen wie bei Sartre. Geschlossene Gesellschaft.“
„Häh?“ Jess hatte gar nicht mitbekommen, dass JJ die Treppe heraufgekommen war.
„Ich vergaß, Literatur ist nicht so deine Stärke.“
„Arsch!“
„Jedenfalls, wir sind alle hier.“
„Und wo, bitte schön, ist dann Maureen?“
„Keine neue Krise.“
„Was ist mit ihrem sabbernden Sohn, ist der keine Krise mehr wert?“
„Nein. Der ist jetzt im Heim. Maureen hat einen Job.“
„Wie schön für sie.“ Jess ließ die Männer stehen und rannte zu ihrer Schwester. Deswegen war sie doch schließlich hier. Oder? Um Jen endlich zu finden, mit ihr nach Hause zu gehen und nicht mehr so verstört zu sein, nicht mehr zu trinken, nicht mehr zu kiffen und keine Pillen mehr einzuwerfen. Sie stürzte auf Jen zu, wollte sie vom Stuhl hochreißen, mit ihr durchs Zimmer wirbeln. Aber irgendetwas war falsch. Ihre Schwester war auf dem Stuhl festgenagelt.
Martin und JJ kamen lächelnd auf sie zu. Sie fand eigentlich nicht, dass dies die passende Gelegenheit war, da hätte es bestimmt passendere gegeben, aber die hatten die beiden nie für ein Lächeln für sie genutzt. Wobei … die zwei Männer wirkten nicht wirklich freundlich.
„Hey!“, schrie Jess, „hey!“ Sie versucht an den beiden Männern vorbei zu schauen. Der Kamera- und der Tonmann waren weg.
„Hey!“ Sie zerrte an Jen, die gellend aufschrie. Als Jess das ganze Blut sah, das dort aus ihrer Schwester tropfte, wo die Nägel tiefe Wunden gerissen hatten, hielt sie inne. Sie schluchzte. „Ich will hier raus! Und Jen soll mitkommen.“
JJ strich ihr sanft übers Haar. „Sch, sch, alles gut. Wir bringen euch raus. Wir kommen mit. Keine Angst.“
Jess schüttelte panisch den Kopf.
„Und dann suchen wir den Engel auf Topper’s House, von dem du der Presse damals erzählt hast. Aber jetzt setz dich erst einmal.“ Martin schob einen Stuhl heran, und JJ drückte sie sanft darauf. Jess hob den Kopf. Ihr Blick fiel auf JJ und Martin und … auf JJ und Martin, die auf zwei Stühlen saßen … an der Wand gegenüber.