Das stille Haus 2: Lara Croft und das Atlantis-Rätsel – Clemens Wojaczek, Lara Croft (Toby Gard)

Zwischen Büschen und Bäumen konnte sie die Obergeschosse der liebevoll verwahrlosten Villa aus der Gründerzeit erkennen. Als auf Klingeln und Rufen niemand öffnete, ging sie in die Nebenstraße und suchte nach einer Möglichkeit, auf andere Weise in den Park und das Haus zu gelangen.

Croft sah sich kurz um, dann ein Tritt, und mehrere Stangen des alten Eisenzauns brachen und flogen ins Gebüsch. Sie betrat durch die Lücke rasch das Grundstück, blieb aber mit dem Rucksack an einer Zaunspitze hängen. Unwillig riss sie ihn los. Atlantis rückte näher.

Atlantis. Generationen von Forschern und Fantasten hatten als Feld- oder Schreibtischdetektive jeden Winkel der Welt durchforstet. Sie hatten Karten gezeichnet und Steine umgewendet, Platons Sätze ausgequetscht und leerinterpretiert, aber gefunden hatten sie – nichts. Ganz Schlaue hatten immer wieder, hämisch wie alle Faulen, Fakten zur Fiktion erklärt. Das half auch nicht weiter. Bis vor ein paar Jahren in den Doñana-Sümpfen nördlich von Cadiz die Überreste einer bronzezeitlichen Stadt entdeckt wurden, die von kreisförmigen Kanälen umgeben war. Aufgeschwemmtes Sediment mit Muscheln und Schneckenhäusern ließ vermuten, dass sie durch einen Tsunami weggewaschen worden war. Aber um diese Theorie ist es in der Öffentlichkeit merkwürdig ruhig geblieben. Wahrscheinlich aus Überdruss an all der Atlantisiererei. Spinner allesamt.

Nicht schlecht. Croft schlich auf die Villa zu, schon das wohlige Kribbeln im Rücken, das den Ruhm verhieß: Das Atlantis-Rätsel gelöst – von Lara Croft …

Kürzlich waren Gerüchte aufgekommen, es seien Tontafeln gefunden worden, Reste eines Palastarchivs. Die Entdeckerin, die amerikanische Privat- und Provinz-Archäologin Henny Ashleeman, verschwand jedoch wenige Tage, bevor sie die Tafeln der Öffentlichkeit vorstellen wollte, und mit ihr die Tafeln und alle physischen und elektronischen Belege ihrer Arbeit. Urkunden eines solchen Archivs geben in der Regel den Namen der Stadt preis, in der sie gefunden worden sind: Ur, Babylon, Wilusa/Ilion/Troja – und jetzt „Atlantis“ … wie hatte jene Stadt wohl geheißen? Tartessos? Schulten hatte vor Jahrzehnten bereits darauf hingewiesen, und kürzlich waren die Privatforscher Kühne und Wickboldt fündig geworden, aber man hatte sie ignoriert, verdrängt, genauso wie man Lara Croft ignorieren und verdrängen wollte. „Laien sind Lakaien“, spottete man in den akademischen Feudal-Zirkeln über die Privatforscher.

Croft wollte nicht warten, bis die Polizei Ashleeman finden würde. Sie hatte selbst die Suche aufgenommen, aber ob die Kollegin abgetaucht war oder ob man sie entführt und Funde und Forschungen gestohlen hatte, war ihr noch nicht klar. Es schien auch keine Fotos von der bisher unbekannten Forscherin zu geben. Allerdings hatte Croft zufällig herausgefunden, dass Ashleeman als Jugendliche einmal in der Villa Stilla zu Besuch gewesen war … eine Spur?

Sie kontrollierte die Ausrüstung: Buschmesser und Uzi „am Mann“, im Rucksack Taschenlampe, Mobiltelefone, ein paar Lebensmittel. Die Schatten einer Baumgruppe gaben ihr Schutz gegen Blicke vom Haus, den Boden und die Kronen suchte sie nach Fallen ab. Sie lief über den Rasen und durch ein Rosenbeet, um eine erhöhte Terrasse zu erreichen. Schäbige Läden waren vor eine Tür und bodentiefe Fenster geklappt. Sie stellte sich mit dem Rücken an die Hauswand und erstarrte.

Im Schatten der Bäume, wo Croft selbst eben entlanggegangen war, lag eine Greisin im Gras, das Gesicht von Schmerzen verzogen. Sie stützte sich auf eine Hand und brauchte offensichtlich Hilfe. Warum habe ich die Frau nicht gesehen? Woher kommt sie so plötzlich?

„Kann ich Ihnen helfen? Entschuldigen Sie, dass ich hier eingedrungen bin. Ich hatte mich am Tor bemerkbar gemacht, aber niemand hat geöffnet. Haben Sie Schmerzen?“

Die alte Frau lächelte gequält.

„Kann ich Sie vielleicht ins Haus bringen? Ich werde Sie tragen, huckepack, wenn es Ihnen recht ist.“

Die alte Frau nickte. Croft steckte die Waffen in den Rucksack – „Sie haben von mir nichts zu befürchten“ -, stellte diesen ins Gras und wartete, bis die Alte sich hochgezogen hatte und festhielt. Wie leicht sie war.

„Wo können wir das Haus betreten?“

Die Alte wies mit dem Finger zu einem Seiteneingang. Dort war die Küche. Croft schob die Tür auf und holte Luft. Die Alte war doch etwas schwerer als eben gedacht. „Wo darf ich Sie absetzen?“

Die Last nahm zu. Was ist das? Croft sah sich um und ging zu einer Eckbank. Sie kniete nieder, um der Alten das Absteigen zu ermöglichen. Aber jetzt schlang diese ihre Beine um Crofts Körper, dass es ihr die Luft aus den Lungen trieb. Mit beiden Armen schnürte die Alte Croft den Hals ein und schmatzte ihr, zufrieden kichernd, ins Ohr.

„Loslassen! Wer sind Sie? Was soll das?“

Noch scheute sie sich, mit ein paar schnellen asiatischen Drehungen und Griffen die Alte abzuschütteln. Träumte sie? Sie versuchte, die Arme der Alten aufzudrehen. Aber deren Muskeln waren eisenhart. Jetzt setzte Croft ihre Kampfsport-Erfahrungen ein, mit denen sie selbst die stärksten Gegner besiegt hatte. Vergebens. Die alte Frau schien vielmehr mit ihr zu verwachsen. Croft lief rückwärts gegen eine Wand, ohne Erfolg. Sie vollführte Fallrückzieher, die kichernde Alte schien wieder schwerer geworden zu sein.

Croft stand auf, ihre Knie begannen zu zittern. Ich muss mich ausruhen, ich brauche einen Plan. Nicht unüberlegt handeln. In was für einen krassen Scheiß bin ich denn da geraten? Wer ist das überhaupt? Ashleeman?

„Runter von mir!“ Der Druck wurde stärker, die Last schwerer. Croft keuchte. Langsam. Langsam. Denk nach. Da musste sie lachen. Ich kämpfe hier wie Herakles, der von Atlas gelinkt wird. Atlas. Atlantis. Das ist doch ein geschmackloser Witz. Nein, kein Witz. Sie kannte diese Szene. Richtig: Sindbad erlebt so etwas. Der Alte vom Berge! Wie wird er ihn los? Er macht ihn mit Wein betrunken. Ich brauche Wein, Schnaps.

„Sind sie Ashleeman? Behalten Sie Ihren Atlantis-Scheiß!“ Sie keuchte und kroch in der Küche umher. Dann suchte sie nach der Kellertür. Dort musste es doch Wein geben! Croft konnte jetzt kaum noch atmen. Die Arme und Beine der Alten schnürten sie wie eiserne Gürtel ein. Sie ekelte sich vor den Falten und dem Geruch der Alten, und sie hustete und würgte. „Was wollen Sie von mir?“

Croft kippte bewusstlos zur Seite.

Sie wurde wach, blinzelte und versuchte sich zu bewegen. Es war warm, ein angenehmes Gefühl auf ihrer Haut.  Aber ihr Rücken schmerzte, von den Misshandlungen durch die Alte und von dem Stein, auf dem sie lag. Es war vollkommen dunkel, und sie schauerte vor Angst. Um sich zu orientieren, öffnete und schloss sie ganz bewusst die Augen – es machte keinen Unterschied. Sie tastete die Steine ab. Alles war glatt. Sie atmete tief ein und aus, es roch nach Stein und sonst nichts.

Nachdem sie etwas umhergekrochen war, erkannte sie, dass der Raum, in dem sie sich befand und in dem sie knapp aufrecht stehen konnte, nur ein paar Quadratmeter groß war. Keine Fugen oder Spalten, keine Tür, kein Fenster, kein Schlüsselloch. Bleib ruhig, Lara. Du kommst hier raus.

Sie suchte nach Lösungen und Erklärungen. Bald fiel ihr auf, dass die Luft sich immer schwerer atmen ließ, sie verbrauchte sich. Was ist das hier, ein Keller? … eine Grabkammer? … ich kann nicht mehr aufstehen … ich werde ersticken … der Raum … hermetisch verschlossen … ich … ersticke … aber warum … wer macht … hermetisch … ein Rätsel … so schwarz … keine Luft mehr … schw …

Sie erstickte.

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