Dieter Sudhoff / Hans-Dieter Steinmetz: Karl-May-Chronik l

von Horst-Dieter Radke

Dieses fünfbändige Werk, in dem das Leben Karl Mays Tag für Tag (soweit bekannt) in chronologischer Folge aufgelistet ist, steht schon seit Längerem bei mir im Regal. Ich habe es aber bislang immer nur zum punktuellen Nachschlagen hervorgeholt, wenn mir ein bestimmtes Thema zu seinem Leben oder Werk für tiefer gehende Informationen interessant genug schien. Zum durchgängigen Lesen hielt ich diese Chronik nicht für geeignet. Nun habe ich aus einer Laune heraus doch den ersten Band einmal von vorne bis hinten gelesen und war überrascht, wie deutlich aus dieser spröden Textsammlung der Autor Karl May hervortritt.

Der erste Band umfasst die Jahre 1842 bis 1896, also von der Geburt bis zum Beginn seines großen Erfolges. Die weiteren vier Bände verteilen sich dann auf die Jahre 1897 bis 1912. Das ist sicher dem Umstand geschuldet, dass mit wachsender Popularität Mays mehr Informationen über ihn und von ihm zur Verfügung standen. Das Jahr 1857 wird beispielsweise auf eineinhalb Seiten abgehandelt. May wird am 25. Februar fünfzehn Jahre alt und besucht das Proseminar des Schullehrerseminars zu Waldenburg bis September. Nach Bestehen der Aufnahmeprüfung wechselt er in das Hauptseminar. Bemerkenswertes Ereignis zum Jahresende: der Tod der erst im November geborenen Schwester Lina.

Interessanter wird es im Jahr 1861, in welchem der Junglehrer May seine erste Stelle verliert, als er dabei erwischt wird, wie er der Frau seines Vermieters, der er auch Klavierunterricht erteilt, einen Kuss gibt. Dies geschieht im Oktober. Seine nächste Stelle als Fabriklehrer endet zu Weihnachten, als er in seinem Heimatort verhaftet wird, weil er angeblich eine Uhr gestohlen hat, die ihm sein Zimmergenosse zuvor stets geliehen hatte. Mays Einwänden, er hätte sie nach den Weihnachtsferien gewiss wieder zurückgegeben, glaubt man nicht, und so landet er im folgenden Jahr für sechs Wochen im Gefängnis. Seine Lehrer- und Beamtenkarriere ist damit beendet. Er versucht sich bis 1864 als Privatlehrer durchzuschlagen und leitet einen Gesangsverein. Dann beginnt er mit dilettantischen Betrügereien, die ihn 1865 für vier Jahre ins Arbeitshaus bringen. Für das Jahr 1866 reicht eine Drittelseite. Herausragendstes Ereignis für May ist sein 24. Geburtstag. Das folgende Jahr braucht schon eineinhalb Seiten. May scheint sich aus einer Psychose freigearbeitet zu haben, nimmt als Posaunist beim Bläserkorps der Gefangenen teil und singt auch im Gefängnis-Kirchenchor mit. Im November 1868 wird der „Sträfling Nr. 171“ wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Er wohnt danach wieder im Erzgebirge bei seinen Eltern, ist aber arbeitslos und ohne Chance, eine Stelle zu bekommen. So wundert es nicht, dass die scheinbar gute Konstitution nach der Entlassung schnell vorbei ist und er im folgenden Jahr rückfällig wird. Er begeht kuriose und merkwürdige Straftaten – zum Beispiel Billiardkugeln klauen –, die ihm kaum etwas einbringen, wird verhaftet, kann aber fliehen, treibt sich bis nach Böhmen herum, wo man ihn als Landstreicher aufgreift. Er erzählt eine fantastische Geschichte, die bei der Überprüfung auffliegt und ihn schließlich ins Zuchthaus bringt.

Das alles ist aus diversen Biografien bekannt, aber nirgendwo habe ich diese Entwicklung so deutlich nachempfinden können wie in dieser chronikhaften Auflistung der Ereignisse mit den Auszügen aus Protokollen, Briefen und sonstigen Dokumenten. Der Text ist eine öde Bleiwüste, aber ich habe dennoch mit Spannung und fortlaufend darin gelesen, wie früher in Mays Abenteuerromanen.

Die Spannung hält auch danach noch an. Seine Zeit nach dem Zuchthaus, die in eine Redakteursstelle mündet, die ersten schriftstellerischen Erfolge, sein Bemühen, Fuß zu fassen, all das kommt sehr plastisch hervor. Man sieht ihn von Termin zu Termin hetzen. Die Bekanntschaft mit dem Mädchen, das später seine Frau werden sollte, wird plötzlich fast zu einem Film. Man möchte ihm zurufen: Lass besser die Finger von ihr! Aber wie es dann kommt, weiß man im Grunde schon. Und später, wenn er daran arbeitet, sich von der Kolportage freizumachen, ständig in Geldnöten ist, der Gerichtsvollzieher sich quasi zum Hausgast etabliert, weil er über wenige Seiten immer wieder auftaucht, leidet man fast schon mit. Unglaublich auch die Ausreden, die er sich einfallen lässt, um seine Auftraggeber zu vertrösten. Weil er immer für mehrere schreibt und nie alle gleichzeitig bedienen kann, hält er auch keine Termine ein. Dass er eben noch auf Reisen war und deshalb nicht antworten konnte, kommt stereotyp.

Auch die Entwicklung, wie er sich nach und nach der Illusion hingibt, selbst all das erlebt zu haben, wovon er erzählt, ist spannend. Zunächst sind es die Zeitungen, die schreiben, dass der Autor, der die Fortsetzung nicht geliefert hat, eben gerade wieder in Amerika in der Prärie oder in Afrika in der Wüste unterwegs sei. Dann kommt nach und nach die Fanpost in Schwung, und May berichtet selbst, dass alles wahr und nichts erfunden sei, lässt Fotos machen und die Waffen seiner Helden anfertigen. Dazwischen gibt es immer wieder Probleme mit seiner Ehe. Hier ein Auszug aus dem Jahr 1883:

„Es ist wahrlich kein Spaß, Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat nur immer aufpassen zu müssen, daß der liebestolle Hausfreund Einem nicht über die Frau geräth!“ (S. 295)

Am Ende des Jahres 1896 sind alle seine Jugendromane geschrieben und sowohl als Zeitschriftenfortsetzungen als auch als Buch erschienen. May hat seinen Verleger (Fehsenfels, Freiburg) gefunden und inzwischen sechzehn Bände seiner sogenannten Reiseromane – später Reiseerzählungen – herausgebracht. Er ist populär wie kaum ein anderer Schriftsteller, seine finanziellen Sorgen los, und man spürt schon, dass es so nicht weitergehen kann, die Katastrophe kurz bevorsteht. Die bahnt sich im zweiten Band an, der von 1897 bis 1901 reicht. Aber den lese ich nicht gleich im Anschluss, dazu war mir diese Lektüre zu dicht. Es muss erst noch etwas Zeit vergehen.

Die Chronik erschien im Jahr 2005. Die Autoren haben alles ausgewertet, was an Material vorhanden und wissenschaftlich erschlossen war. Seitdem sind beinahe zwanzig Jahre vergangen. Ob es sich lohnen würde, diese Chronik mit neuem Material zu ergänzen, weiß ich nicht. Sicher hat sie aber noch ein paar Jahre Bestand, vielleicht ein, zwei Jahrzehnte.

Auszusetzen habe ich fast nichts, einzig die leeren Sonntage, die ab 1893 im Text auftauchen und ihn aufblähen, stören mich ein wenig. Ein Sinn scheint mir nicht dahinter zu stehen. Sie bieten keinerlei Information, und auch eine besondere Funktion erschließt sich mir daraus nicht. Sollte es einmal zu einer Überarbeitung und Ergänzung der Chronik kommen, wären Verlag und Autoren gut beraten, diese Leereinträge zu entfernen.

Ihr Horst-Dieter Radke

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