Dorrit liest: Francesca Melandri „Alle, außer mir“

2010 steht ein junger Mann vor der Tür der italienischen Lehrerin Ilaria und behauptet, ihr Neffe zu sein. Allein der Blick auf seine Hautfarbe scheint ihn als Betrüger zu entlarven, denn der junge Mann ist schwarz. Doch schon bald wachsen Zweifel in Ilaria: Ihr Vater war einst als Besatzer in Äthiopien und niemand aus seinem heutigen Leben weiß, was er dort getan hat. Zudem erinnert Ilaria sich noch gut daran, wie sie als Jugendliche erfuhr, dass ihr Vater seit vielen Jahren eine zweite Familie in Rom hatte und sie einen Halbbruder, den sie erst mit 16 kennenlernte. Womöglich hatte er also tatsächlich auch eine Familie in Äthiopien?

Fragen kann sie ihn nicht mehr, denn Attilio Profeti lebt zwar noch, doch Demenz hat alle Verbindungen zu seiner Vergangenheit in unkontrollierbare Gedankenblitze verwandelt. Irgendwann einmal murmelt er „Abeba“, aber wer oder was Abeba ist, weiß niemand. Also macht Ilaria sich selbst auf die Suche. Was als persönliche Suche beginnt, wird zu einer Recherche über jenes Italien, das einst auf der großen Bühne des Kolonialismus mitspielen wollte und schließlich am Widerstand der Abessiner scheiterte. Vernichtend geschlagen zogen die Italiener sich zurück und hinterließen – im Wortsinn – verbrannte Erde und: Kinder. Ilaria findet viel über die Zeit der Besatzung in Afrika heraus, auch Dinge, die sie – wie viele Italiener – bislang lieber nicht so genau wissen wollte, obwohl sie sich als Linke durchaus kritisch mit ihrem Land auseinandersetzt.

Zur gleichen Zeit nähern sich Ilaria und ihre Geschwister einerseits und der afrikanische Verwandte andererseits allmählich an. Das ist ein schwieriger Prozess, zu verschieden sind ihre Leben, ihre Erfahrungen. Es braucht Zeit, einander zu verstehen. Zumal die Frage, ob sie wirklich miteinander verwandt sind, ja noch nicht beantwortet ist. Doch am Ende, als es schon beinahe egal ist, klärt sich auch das. Ein bisschen anders als gedacht. Doch da haben Ilaria und ihre Geschwister Shimeta bereits in ihre Familie aufgenommen.

Ganz nebenbei zeichnet Francesca Melandri ein Bild der italienischen Gesellschaft im beginnenden 21. Jahrhundert. Die Risse zwischen den Berlousconi-Anhängern und den Anderen wirken bis in die persönlichsten Beziehungen hinein. Mit knapp 600 Seiten ist der Roman keine Lektüre für zwischendurch, doch die Figuren wachsen dem Leser schnell ans Herz und die Erkenntnisse aus Ilarias Recherche erweitern den europäischen Blick auf Afrika.

Bereicherte Grüße,
Ihre Dorrit Bartel

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