Ein besonderer Sonntagsgruß

von Dorit David und Matthias und Julia, Lucie und Luciea, Ruth, Neon, Antonia und Sam, Tanja, Verena, Dagmar, Eva, Ka, Susanne, Anna und Gerome, Jutta, Dorit

Wir pflegen eine Tippgemeinschaft. Eine literarische.
In unserem Gästezimmer steht eine alte Adler-Schreibmaschine, die ich nicht im Schrank belassen wollte, denn das Farbband funktioniert noch immer. Sie stammt aus dem Jahre 1937. Auf diesem Erbstück hinterlassen unsere Gäste – auf meine Bitte hin – Worte oder Sätze.

Ungefähr 30mal im Jahr haben wir Besuch – privater oder geschäftlicher Natur –, und alle diese Menschen höre ich mehr oder minder laut auf die Tasten einschlagen. Am Jahresende wird die Geschichte von mir „rundgemacht“, digitalisiert und illustriert. Dann bekommt die Tippgemeinschaft einen Jahres-End-Brief des gesammelten Werkes per Post. Analog und mit Bild.
Dieses Jahr dürft auch ihr – erstmals im Blog der 42er – daran teilhaben.
Viel Freude beim Lesen!

Die Nummer

„Bitte pfeifen Sie nach dem Sprechton!“, hörte der sächsische Rasenballsportler Jörg Fallbeil aus seinen zahnbürstenkopfähnlichen Ohrstöpseln. Er schnellte aus dem Tiefschlaf hoch, in dem er sich seit dreißig Minuten befand, seit er sich in der Warteschleife der Leipziger Stromversorgungsbetriebe aufhielt und stieß mit dem Kopf gegen den über ihm hängenden Ast. Jörg Fallbeil war eingeschlafen, mitten im Stadtpark von Leipzig auf einer Bank, auf der er saß. Er befand sich dort, weil er sich die Warteschleifenzeit mit einem Spaziergang hatte vertreiben wollen, statt zu Hause unnütz herumzulungern, bis sich endlich jemand meldete. Es war bereits der dritte Tag, an dem er niemanden erreichte, der ihm hätte weiterhelfen können, weil seine Heizung ausgefallen war und es bei ihm zu Hause genauso kalt war wie derzeit im Stadtpark. Die ganze Nacht schon hatte er vor Kälte kein Auge zu getan, und in der Mittagssonne auf dieser Bank war ihm wohlig warm geworden. So hatte ihn der Schlaf übermannt. Als er erwachte, bemerkte er, dass die Ansprache gar nicht aus seinen Ohrstöpseln kam. Vor ihm stand ein seltsames Geschöpf. Es war hüfthoch, aus Plastik, hatte zwei freundliche LED-Augen und sagte mit androgyner Stimme: „Guten Tag, ich bin Ihr Chatbot und beauftragt, mit Ihnen zu kommunizieren. Bitte pfeifen Sie nach dem Sprechton, damit ich weiß, dass Sie mich verstanden haben!“ Schlaftrunken und komplett überrascht tat Jörg Fallbeil, wie der kleine Robot ihm geheißen. Als Rasenballsportler trug er seine kleine grüne Pfeife immer um den Hals. Er führte sie an die Lippen und blies kräftig hinein.

„Danke“, sagte der Chatbot. „Mein Name ist 3367002. Was kann ich für Sie tun?“

„3367002?“, wunderte sich Jörg Fallbeil. „Das ist doch die Nummer, die ich seit Tagen zu erreichen versuche!“

„Deswegen stehe ich hier und rede mit Ihnen. Das Fernmelde- sowie das Fernwärmenetz in der Region Leipzig sind aus Gründen eines erhöhten Informationsbedürfnis überlastet.“

„Und für sowas wie dich sind Geld und Strom übrig?“, platzte Jörg Fallbeil wütend heraus. Die Situation erschien ihm absurd.

„Ich identifiziere Ihre Antwort als diskriminierend und werde mich jetzt für drei Minuten sperren.“

Damit erloschen die freundlichen, blauen LED-Augen, und Jörg Fallbeil fühlte sich zwischen den Stühlen. Einerseits ärgerte er sich, andererseits brauchte er Soforthilfe. Unbeholfen streckte er eine Hand nach dem Geschöpf aus und berührte es vorsichtig. Überraschenderweise fühlte sich die Oberfläche des Chatbot weder kalt noch glatt an, sondern erinnerte ihn an die Haut von jungen Manatis. Grau, weich, zurückhaltend und offen. Sie schien sogar eine Temperatur zu haben. Jörg Fallbeil baute binnen weniger Sekunden – und wider besseres Wissen –, eine menschliche Beziehung zu dem gesperrten Ding auf. „Menschen sind soziale Wesen“ – diese Binsenweisheit waberte wie ein Mantra durch sein verschlafenes Hirn, und womöglich war dieses digitale Wesen genau so programmiert. Beziehungsherstellung.

Wieder fluchte er leise. Die Digitalisierung sollte es leichter für alle Menschen machen. Nicht komplizierter. Er musste höflich bleiben, sobald sich das Ding wieder anschaltete. Sonst riskierte er wohlmöglich mit nächsten unbedachten Äußerungen einen Computerabsturz oder eine Vollsperrung. Die blauen, hellen Augen leuchteten wieder auf. Drei Strafminuten waren um. Jörg Fallbeil seufzte erleichtert auf. Neuer Versuch!, ermuntert er sich. Bloß nichts vermasseln. „Ähm … Entschuldigen Sie bitte, Herr 3367002“, setzte er an, aber das Wesen unterbrach ihn umgehend freundlich: „Kein Herr, bitte.“

„Oh Pardon, ich meinte natürlich Frau 33.“

„Keine Frau“, widersprach der Chatbot sanft. Nun kam Jörg Fallbeil gänzlich von der Rolle. Mit digitaler Frauenpower hätte er gerade noch umzugehen gewusst, aber so? Er kam sich vor wie ein Fischkopf, sein Mund klappte auf und zu, aber nichts kam heraus.

„Deine Pausen sind anstrengend für mich“, unterbrach der kleine Bot sein Schweigen.

„Wie soll ich dich ansprechen?“, stieß Jörg Fallbeil heraus.

„Einfach 3367002“.

Die LEDs schimmerten friedlich, blau. Unauffällig sah Jörg Fallbeil sich um, ob er bei dieser merkwürdigen Situation Zuschauer hatte, Passanten, die ihn und das Ding vielleicht beobachteten. Die Situation war ihm unglaublich peinlich. Aber da war niemand. Lediglich dreißig Meter entfernt spielte eine Handvoll Kinder Fußball, und die waren, Dank ihrer Spielfreude, so vertieft in ihr Gerenne um den Ball, dass Jörg Fallbeil sich unbeobachtet wähnen durfte. Eine Taube pickte nach Brotkrümeln, die entweder existierten oder auch nicht. Wer konnte das schon sagen? „Wasser im Glas fließt über. Kiotos Paljon.“, wisperte es aus den drei gelb erleuchteten Löchern, die den Mund des Boots symbolisierten.

„Was hast du gesagt?“, fragte Jörg Fallbeil.

„Nichts von Bedeutung. Ich dichte nur ein wenig vor mich hin, während du mir nicht antwortest.“

„Also gut“, erwiderte Jörg Fallbeil und versuchte sich zu sammeln, „3367002, ich muss Ihnen mitteilen, dass ich seit drei Tagen weder Strom noch Wärme habe. Mir ist kalt, und ich möchte etwas Licht in meinen vier Wänden.“ Die abflussgroßen LED-Augen begannen rosa zu flackern und mit einer tieferen und wärmeren Stimme, die Jörg Fallbeil an seine Auto-Navigations-Stimme Sarah erinnerte, antwortete der Bot: „Ich könnte mich für die Zeit der Netzwerkstörung, die derzeit die gesamte Stadt betrifft, zu dir setzen. Mein Körper hat einen integrierten Wärmespender, den ich aktivieren kann, wenn du mich umarmst.“

„Wie bitte?!“ Jörg Fallbeil verschluckte sich heftig ob der Ungeheuerlichkeit dieses Vorschlags. Wie peinlich war das denn? Während er noch mit dem Husten kämpfte, dichtet der Bot: „Jets ist Ikai Zeit to enter into another world.“

Nachdem Jörg Fallbeil den Anfall erfolgreich niedergekämpft hatte, stammelte er:

„Ich meinte eigentlich das Licht und die Wärme in meiner Wohnung.“

„Der 65-jährige, der loslässt, um sich neu finden zu lassen,“ erwiderte das Geschöpf auf seine Bitte. Jörg Fallbeil spürte erneut seine aufkeimende Wut. Das Gerät schien eine integrierte Poesie produzierende Software in sich zu tragen, mit der er nicht umzugehen wusste. Er war Sportler, kein Lyriker. „Hören Sie: Ich benötige dringend warmes Wasser und elektrisches Licht“, wiederholte er stoisch und fügte hinzu: „Mit Aphorismen und philosophischer Prosa ist mein Problem nicht zu lösen!“

Der Bot konterte mit Brecht: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“

„Na endlich“, erwiderte Jörg Fallbeil, „ich sehe, wir verstehen uns.“

„Dann umarme mich“, wiederholte der Bot seinen Vorschlag. Verstohlen blickte Jörg Fallbeil sich um. Was hatte er schon zu verlieren? Außer das bisschen Würde, dass ihm ohnehin schon abhandengekommen war in den letzten drei Tagen, in denen er wie ein Obdachloser durch die Straßen geschlichen war. Zögernd legte er seinen Arm um den kleinen Bot, der augenblicklich eine angenehme Ofenwärme verströmte. Durch die tagelange Auskühlung nach Wärme ausgehungert presste Jörg Fallbeil in einem Anfall von Bedürftigkeit seinen Körper an den Bot, während ihm ein erleichterter und wohliger Seufzer entfuhr. „Vergebung und Versöhnung!“ Ungewollt verließen diese Worte seinen Mund.

„Snowflakes are falling on my tongue with great pleasure …“ sang der Chatbot leise und mit der Melodie von „Jingle Bells“ dazu. Jörg Fallbeil musste lächeln. Es geschah ohne Absicht. Eine merkwürdig ungewohnte Bewegung seiner Mundmuskulatur. Der Chatbot wurde noch wärmer, und in seine Augen trat ein regenbogenfarbiger Glanz. „Jeder Tag ohne ein Lächeln…“

„Bitte nicht!“, fuhr ihm Jörg Fallbeil ins Wort und stieß ihn von sich. Nicht dieser Aphorismus, dachte er. Überallhin verfolgten ihn diese Zeilen. In jedem Schaufenster, auf jedem Frühstücksbrettchen, auf den Postkarten seiner Mutter. Alles machte er kaputt in seiner Abgegriffenheit. Für einen kurzen Moment hatte Jörg Fallbeil sich der Illusion hingegeben, dass die K.I., die aus diesen drei gelben Löchern und mit hellblauen Augen zu ihm sprach, tatsächlich ausschließlich ihn und niemand anderen meinen würde. Ihn ganz allein. Jörg Fallbeil. Und nicht den Mieter 08/15, der fünfte im Dokument Nummer 29, in Spalte sieben, von links gezählt, der wie tausend andere ein Problem mit Energieversorgung hatte.

Und nun entpuppte sich diese speziell auf ihn gemünzte Zuneigung lediglich als eine Ansammlung abrufbarer Aphorismen.

Noch bevor er wütend aufstehen und weggehen konnte, traf ihn ein harter Schlag am Hinterkopf. Er kippte nach vorne und landete auf dem Bot. Der Fußball der bolzenden Kindergruppe hatte ihn am Hinterkopf erwischt.

„Ihr bekloppten Idioten!“, schrie er, nachdem er sich aufgerappelt hatte, den Kindern entgegen, die sich nicht um ihn scherten, nur lachten und weiter dem Ball hinterherjagten. Was ihn noch wütender machte. „Ich schlag euch zusammen, wenn ich einen von euch erwische!“, schrie er außer sich vor Wut, den ganzen Ärger der drei kalten Tage in sich spürend. Ein großes Verlassenheitsgefühl gepaart mit wilder Enttäuschung entfachte seinen Ärger noch mehr. Das kleine Wesen aus Plastik lag auf dem Rücken und schien den Sturz heil überstanden zu haben. Unbeschadet strahlte das freundliche helle Blau aus seinen Augen. „Was glotzt du so?“, brüllte Jörg Fallbeil ihn an. Alles war ihm egal geworden. Verraten hatte man ihn. Lächerlich gemacht. Hingehalten! Am liebsten hätte er auf den Bot eingetreten. „Plastikmüll!“, stieß er hervor.

„Es ist deine Entscheidung“, tönte es freundlich aus den drei gelben Löchern des Gerätes. „Was!? Was ist meine verfickte Entscheidung?“, trompetete Jörg Fallbeil.

„Ob du mich jetzt umarmst oder zerstörst“, antwortete das Gerät.

„Ha! Du glaubst wohl, du bist intelligent, was?“, tönte Jörg Fallbeil höhnisch. „Dann zeig mir mal deine Intelligenz, deinen freien, digitalen Willen und beantworte mir eine einzige Frage: Was willst du denn?“ Seine Hände zitterten vor Erregung.

„Es ist mir egal. Ich diene dem, der mich braucht. So bin ich programmiert.“

„Gut rausgeredet. Und welches Arschloch hat dich programmiert?“

„Ein Mensch.“

Jörg Fallbeil versuchte sich zu sammeln. „Du willst mir jetzt nicht wirklich erzählen, dass es dir völlig egal ist, ob ich unseren Streit hier friedlich oder mit Gewalt löse, und dich in deine Einzelteile zertrete?“

„Krieg und Frieden haben den gleichen Ursprung“, erwiderte das Gerät.

„Welcher Ursprung soll das bitte sein?“, schnaufte Jörg Fallbeil.

„Der Mensch“, antwortete der Chatbot und lächelte gelb mit fünf Mundpunkten.

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