Ich hatte gehört, Michael Ende habe seine „Unendliche Geschichte“ abgekupfert, und zwar von Gustav Goes und seinem Werk „Das verschlossene Buch“. Da ich es genauer wissen wollte, habe ich mir antiquarisch dieses Buch beschafft. Es ist ausreichend im (antiquarischen) Umlauf, und ich konnte mir ein leidlich erhaltenes Exemplar zu einem angemessenen Preis besorgen. Es weist nur unwesentliche Beschädigungen auf und ist auf gutem Papier gedruckt, sodass die Seiten kaum vergilbt sind. Dies kommt insbesondere den Grafiken von T. Schönecker zugute. Bei einem Preis von zwanzig Euro für ein Buch, das vermutlich einhundert Jahre alt ist, eine nicht zu bereuende Investition.
Der Erzähler, ein dreizehnjähriger Junge, besucht in einer alten fränkischen Bischofsstadt – Bamberg wird wohl Vorbild gewesen sein – regelmäßig den Großvater, der eine Apotheke führt. In seinem Laboratorium hat der ein altes, verschließbares Buch liegen, aus dem er dem Enkel Geschichten vorliest. Eines Tages verlässt der Großvater den Raum, und der Junge beginnt verbotenerweise in dem Buch zu lesen. Sofort ist er in die Geschichte hineingezogen, Gefangener des Buches und damit auch Gefangener des Zauberers Hagan, eines ewigen Wanderers. Der Junge heißt nun Johannes Peruneit und ist ein Trossbube im Gefolge des Zauberers. Damit nicht genug. Er soll auch noch Alisa, die Prinzessin von Alcandar, für den Zauberer gewinnen. Dafür wird er zum Läuferknaben Silvio. Am Schluss geht der Plan des Zauberers erwartungsgemäß nicht auf, und auch der im Buch gefangene Junge kehrt zurück – allerdings vorzeitig. Das Ende wird dadurch ein wenig hinausgezögert.
Geschrieben ist die Geschichte in einem sehr eindringlichen, altertümlichen Erzählstil. Eingewoben sind traumhafte Sequenzen. So zaubert Hagan den Jungen Peruneit in eine Pfütze und lässt ihn dort die Welt der Mikroben, Algen und Einzeller erleben. In der Mitte des Buches schickt Hagan ihn auf eine Reise, die so surrealistisch ist, dass man an ein Drogenerlebnis denken möchte. Von dieser Reise kehrt er als (vermeintlicher) Läuferjunge Silvio zurück. Ritte durch die Luft kommen vor, ein Flug mit dem Greif und ein williger Hirsch, der den Jungen in die Berge trägt. Sehr schön hat der Autor beschrieben, wie der Junge sich nach und nach an seine Ausgestaltung als Trossjunge scheinerinnert oder der Läuferjunge Silvio seine Herkunft aus der ihm suggerierten Erinnerung holt. Alles in allem eine wundervolle phantastische Geschichte – wobei mir das Ende nicht unbedingt zusagt. Die Lösung über die alte Weissagung ist mir dann doch etwas zu dünn, weil zu oft genutzt. Vielleicht gilt dies aber nur aus heutiger Sicht, weil wir mit derartiger Literatur quasi übersättigt sind.
„Hast Angst, Milchbart?“, gellte mir eine rauhe Stimme in die Ohren.„Schau’ nach vorne, nicht in die Tiefe!“„In die Tiefe?!“ Ein leichter Schwindel erfaßte mich. Bang richtete ich mich halb empor und sah über Selinkas Kopf hinweg. Die Straußenfedern schlugen an meine Wangen. Dort ritt Hagan, jagte dahin, schwebte, flog. (S.23)
Im Mittelpunkt der Erzählung steht Hagan, der Zauberer. Er ist ein „ewiger Wanderer“. Der Autor bedient sich damit bei einem uralten Motiv, das in der verengten Gestalt des „ewigen Juden“ wenig später auch im Dritten Reich sehr populär werden sollte. Hagan sehnt sich nach nichts mehr, als endlich erlöst zu werden. Das kann er am Schluss auch wieder umdrehen, wenn er der Prinzessin erklärt, dass er auch weitere tausend Jahre leben kann, nachdem er sie und ihren Geliebten als verzauberte Gefangene mit in die Unsterblichkeit genommen hat.
Manche Bilder erinnern tatsächlich an Michael Endes „Unendliche Geschichte“. Etwa das Motiv des Jungen, der in der Geschichte verschwindet und sich daraus selbst befreien muss. Auch der Ritt mit dem Greif könnte für Ende Vorbild dafür gewesen sein, seinen Bastian mit dem Drachen durch die Luft zu schicken. Das ist aber auch schon alles. Weder Sprache noch Geschichte hat Ende übernommen. Er hat, möglicherweise angeregt durch dieses Buch, etwas ganz Eigenes geschaffen. Ideenklau und Plagiat sind ihm zumindest von dieser Quelle aus nicht anzulasten, allenfalls hat er sich davon inspirieren lassen.
„Das verschlossene Buch“ ist keinesfalls ein Märchenbuch für Kinder. Sie würden zwar nicht unbedingt Schaden nehmen, aber manche der phantastischen Szenen würden sie vermutlich eher langweilen oder irritieren. Für Erwachsene ist das Buch durchaus lesenswert, etwa als Beispiel früher deutscher phantastischer Literatur. Als ein großes Werk will ich es nicht bezeichnen. Die Geschichte ist zwar reizvoll und auch nicht schlecht erzählt, keineswegs aber ungewöhnlich. Beachtenswert sind auch die Illustrationen von T. Schönecker, über den ich leider nicht mehr in Erfahrung bringen konnte, als dass er als Buchillustrator zwischen 1900 und 1930 gearbeitet hat.
Da mir der Autor nicht bekannt war, habe ich ein wenig recherchiert. Viel war aber nicht herauszufinden. Gustav Goes wurde am 20.04.1884 geboren. Gestorben ist er 1946 in Rybinsk, eine Stadt nördlich von Moskau. Dass er dorthin als Kriegsgefangener gekommen ist, nehme ich an. Als Geburtsort vermute ich Bamberg, weil er auch später ein Buch über die Stadt schrieb (1930). Er nahm am Ersten Weltkrieg teil und schrieb in späteren Jahren auch darüber. 1919 kam er nach Potsdam und war dort als Oberheeresarchivrat tätig (Heeres-Oberarchivrat und Hauptmann a. D. aus anderer Quelle). „Das verschlossene Buch“ könnte um 1910 herum veröffentlicht worden sein. Eine Jahreszahl ist in meinem Exemplar leider nicht zu finden, und auch sonst sind im Internet eher undeutliche Jahresverweise zu recherchieren. Nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte er zunächst weitere märchenhafte Literatur:
– Im Wunderreiche des Bergkönigs (1922)
– Ins Märchenland (1922)
– Märchengeister (1923)
Danach schrieb er zunächst (fast) nur noch militärische Fachliteratur:
– Soldatenherz
– Ein Kriegsskizzenbuch (1925)
– Wehrhaftes Volk 1914–1918 (1935)
– Frontsoldaten
– Ein Freilichtspiel (1935)
– Kemmel: Sturm und Sterben um einen Berg mit 24 Feldzugsaufnahmen (1935)
– Die Trommel schlug zum Streite
– Ernstes und Heiteres aus dem Kriege (1940)
– Chemin des Dames
– das Heldenlied des Weltkriegs (1941)
1930 veröffentlichte er das bereits erwähnte Buch über Bamberg: „Bamberg, Deutsche Stadt der Wunder und Träume“.
Bei der Suche in Sekundärliteratur zur Literatur zwischen 1933 und 1945 finden sich Hinweise auf Gustav Goes, der mit seinen Stadionspielen als Vorläufer der Thingspiele gesehen wird, „welcher in seinen Stücken ‚Ahasver’, den ‚ewigen Juden’, als antisemitischen Topos verwendet“. Goes scheint das Wanderer-Motiv aus seinem ersten Roman politisch angepasst zu haben. In welchen Stücken und Texten genau, konnte ich aber nicht ermitteln.
Nachdem ich nur seinen ersten Roman gelesen habe, schließe ich, dass Goes seine beginnende und sich in phantastischer Literatur ausdrückende dichterische Begabung später in eine „angepasste“ Literatur gelenkt hat. Das macht seinen ersten Roman nicht weniger lesenswert – kritische und tendenziöse Aussagen konnte ich darin zumindest nicht entdecken –, aber über dieses Buch hinaus scheint er mir nicht sonderlich interessant. Möglicherweise sind seine Märchenbücher noch hinzuzurechnen. Da sie allerdings anders als „Das verschlossene Buch“ auch antiquarisch nur recht kostenintensiv zu beschaffen sind, konnte ich das nicht prüfen. Vielleicht ist er einer der Dichter, von denen ein Buch überlebt – wenn überhaupt – und die sonst nicht zu Unrecht vergessen werden.
Horst-Dieter Radke
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