Hanz Magnus Enzensberger, 99 Überlebenskünstler – Literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert

Nie zuvor hatte ich mir vorstellen können, fast hundert Kurzbiografien von Schriftstellern am Stück lesen zu wollen. Allein dieser Titel reizte mich aber schon zum Kauf, obwohl ich da noch erwartete, dass ich über längere Zeit mal hier, mal da ein paar Bios lese und so vielleicht Monate bis zum Auslesen des Buchs benötigen würde. Es kam anders. Ich fing nach Weihnachten mit dem Buch an und hatte es am 4. Januar ausgelesen. Für rund 360 Seiten eigentlich auch eine längere Zeit, aber ich kann entschuldigend ins Feld führen, das in der ersten Hälfte die Enkelkinder da waren und zu Beginn des neuen Jahres noch anderer Besuch anstand.

Enzensberger hat sich Autoren ausgesucht, die hauptsächlich im 20. Jahrhundert gewirkt haben. Der erste – Knut Hamsun – wurde 1859 geboren, der letzte – Ismail Kadare – 1936. Bis auf den letzten sind alle inzwischen verstorben. Streng nach Geburtsdatum geordnet führt Enzensberger Schriftsteller aus aller Welt auf, die für ihn den Aspekt »Überleben« repräsentieren, auf die eine oder andere Weise. Die Kurzbiografien sind zwei bis fünf Seiten lang und als Einzelne schnell gelesen. Es ist aber so gut wie unmöglich die Biografien im Dutzend zu konsumieren. Zu oft bleibt man hängen, denn Enzensbergers Auslassungen sind bei aller Objektivität, um die er sich bemüht, doch sehr subjektiv, insbesondere bei denen, die er kennt, doch sehr persönlich durchdrungen. So hat man über alle Biografien hinweg, zwar keine vollständige, aber doch eine durch alle Zeiten reichende Hintergrundbiografie des Biografen dabei. Alle sind lesenswert, was man von der Einleitung nicht sagen kann. Die gelingt ihm allzu bemüht. Dass von ihm kein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Erdteilen und zwischen Männern und Frauen erreicht werden konnte, muss nicht entschuldigt werden. Genauso wenig muss eine Rechtfertigung dafür gefunden werden, dass es eben nur Schriftsteller und keine anderen Künstler sind. Enzensberger versucht es dennoch.

In einer knappen Notiz am Ende des Buches dankt Enzensberger seinem Lektor, der »fast alle« seiner Fehler aus dem Manuskript beseitigt hat. Das stimmt. »Fast« alle. Einige sind noch drin. Die stören allerdings kaum, sondern ringen dem kundigen Leser eher ein Schmunzeln ab. Etwa wenn er zu Gerhart Hauptmann schreibt:

Im Sommer zog er sich in ein Kloster auf der Insel Hiddensee zurück. (s.24)

Auf Hiddensee gibt es meines Wissens kein Kloster mehr. Eine Zisterzienserabtei bestand vom 13. Bis zum 16. Jahrhundert. Es gibt aber den Ort »Kloster« auf der Ostseeinsel und das Haus, das Hauptmann sich dort gebaut hat und das heute Museum ist. Auch sein Grab findet man dort. So ist das, wenn man nur flüchtig bei Wikipedia nachschaut. Da kann so etwas auch einem kritischen Geist wie Hans Magnus Enzensberger passieren. Diese wenigen »Fehlerchen« sind jedoch nur marginal und trüben die Freude an diesem Buch nicht. Ich habe einige Namen entdeckt, die ich noch nicht kannte und deren Werk ich mir auf Grund dieser Beschreibungen zur Lektüre »vorgemerkt« habe. Bei anderen, die bei mir unter die Rubrik »Man muss nicht alles gelesen haben« fallen, fühlte ich mich durch Enzensbergers persönlicher Einschätzung bestätigt.

Ich habe Hans Magnus Enzensberger 2016 bei einer Lesung in Bad Mergentheim erlebt. Er ist nicht mehr der Jüngste (Jahrgang 1929) und liebt es kurz. Es ist dem Moderator, der ihn nicht nur zum Vorlesen, sondern auch zum Gespräch motivierte, zu verdanken, dass die Veranstaltung nicht möglicherweise schon nach einer halben oder dreiviertel Stunde zu Ende gewesen ist. Er merkte während der Veranstaltung zweimal an, dass man eigentlich Schluss machen könne, es wäre ja alles gesagt. So kommen mir auch diese Vignetten vor. Ich stelle mir vor, dass er vielleicht schon bei 66 aufhören wollte, sein Lektor aber mehr von ihm gefordert hatte, damit es zu diesem Buch reicht.

Ich habe es gern gelesen und werde es sicher dann und wann aus dem Regal nehmen, um diese und jene Biografie erneut nachzulesen.

Eine Amazon-Rezension zu diesem Buch möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:

Gehört ins Bücherregal jedes gescheiden Menschen.

Originalzitat. Schreibweise wurde nicht geändert!

😉

Ihr Horst-Dieter Radke

 

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