Horst-Dieter erzählt zu Weihnachten: Die Eisenbahn

Weihnachten, das Fest der Freude, der Tag, an dem Wünsche wahr werden. Der Mittelpunkt des Jahres, obwohl ganz hinten verortet. Als Kind lebten wir auf Weihnachten hin. Im Sommer, müde nach dem Indianerspiel und träge von der Hitze, lagen wir im Gras, kauten auf wildem Sauerampfer und beichteten uns gegenseitig, was wir uns zu Weihnachten wünschten.

Es gab Wünsche, die wurden wahr, und es gab solche, die wurden es nicht. Diese Weisheit hatten wir schon erlangt, bevor wir die Schule besuchten. Es gab aber auch Wünsche, die wahr wurden und doch nicht glücklich machten.

Da war zum Beispiel das Weihnachtsfest, an dem nach dem ermüdenden Absingen der Weihnachtslieder die Decke vom Gabentisch gezogen wurde und sich nach und nach, Päckchen für Päckchen, das aus dem Geschenkpapier geschält wurde, herausstellte, dass die sehnlich gewünschte elektrische Eisenbahn nicht dabei war.

Mein Gesicht wurde immer länger und das meines Vaters immer vergnügter. Und endlich, als ich schon den Tränen nahe war, stand er auf, ging quer durch das Wohnzimmer zu einem anderen kleinen Tisch, den ich bisher übersehen hatte und enthüllte das ersehnte Stück. Auf einer Platte war alles fix und fertig aufgebaut: Berge mit Tunnel, Bahnhof, Weichen, ein kleines Dorf hier, ein anderes da und natürlich der Zug, der mit gehörigem Geräusch seine Runden drehte.

Dieser Weihnachtsabend war gerettet. Ich ließ mir alles erklären, bediente bald Trafo und den Schaltkasten für die Weichen wie ein gestandener Stellwerkführer und konnte nur mit Mühe ins Bett gebracht werden. Aber es dauerte kaum ein paar Tage, da war die Euphorie verflogen. Ich kannte die Runden, die der Zug drehen konnte, zur Genüge. Die beiden Dörfer waren mir vertraut und es drängte mich, eine neue Welt zu bauen, die Eisenbahn andere Wege fahren zu lassen. Da aber stand der Vater vor. Über lange Zeit hatte er an dieser Bahn gebaut, hatte vieles aus Sparsamkeit selbst entwickelt und entworfen. Und jetzt wollte der Sohn das alles zunichtemachen, um eine neue Welt zu schaffen?

Selten habe ich so intensiv gebettelt und gerungen und selten ist er so hart geblieben und nicht nach links und rechts abgewichen. Die Eisenbahn blieb, wie sie war, und mein Interesse verflog so schnell, wie es aufgeflammt war. Es durfte sich später mein jüngerer Bruder noch für eine Weile daran erfreuen – und ab und an hat Vater seine Zeit damit verbracht; immer ein wenig traurig, hatte ich den Eindruck; denn er fühlte sich verkannt als Weltenschöpfer. Diejenigen, für die diese Welt gedacht war, hatten nicht lange Freude daran.

Manchmal denke ich, dass es dem wirklichen Weltenschöpfer, sollte es ihn geben, ähnlich geht. Zwar hat er uns die Freiheit für den jederzeitigen Umbau der Welt gegeben, aber hat er Freude daran, was wir daraus machen?

Ihr

Horst-Dieter Radke

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