Kristin empfiehlt zu Weihnachten: Erik Fosnes Hansen – Ein Hummerleben

Was es mit den Hummern aus dem Titel auf sich hat? Freilich, sie kommen im Roman vor. Bis zu ihrer endgültigen Bestimmung leben sie in großen Aquarien. Die Aquarien stehen in der Küche des Grandhotels, in dem das Hotelpersonal und das des Romans arbeiten und leben. Das Hotel wiederum erhebt sich inmitten der großartigen Kulisse der Bergwelt Nordnorwegens und zog in seinen Glanzzeiten reiche Gäste aus aller Welt an.

Vorbei die Glanzzeiten. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des vierzehnjährigen Sedd, den seine Großeltern, die etwas kauzigen Hotelinhaber, mit strenger, aber liebevoller Hand aufziehen. Von seiner Mutter weiß Sedd zunächst nur, dass sie laut kryptischer Aussage der Großeltern „von der Zeit verweht wurde“, von seinem Vater nicht mehr, als dass er ein aus Indien stammender Arzt war.

Gleich auf den ersten Seiten versucht Sedd, dem Bankdirektor wieder Leben einzuhauchen, nachdem der bei einem Festmahl im Hotelrestaurant zusammengebrochen ist. Der den Großeltern stets wohlgesonnene Direktor stirbt, und die allgemeine Bewunderung angesichts Sedds vergeblicher Heldentat kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier etwas ganz anderes im Argen liegt. Immer besorgter werden die Blicke der Großeltern, immer verzweifelter ihre Bemühungen, Gäste anzulocken. Schon seit Längerem öffnet der Großvater seine Post nicht mehr, und hinter verschlossenen Türen werden offenbar unangenehme Gespräche mit dem neuen Bankdirektor geführt. Dass Sedd ein scharfer Beobachter ist, in jugendlicher Naivität aber die Dinge nicht einordnen kann, macht einiges vom Lesevergnügen dieser in ruhigem Ton erzählten Tragikomödie aus.

Als des neuen Bankdirektors elfjähriges Töchterlein, die niedlich penetrante Karoline, auf einem Spaziergang beinahe ertrinkt, sind Sedds Rettungsversuche erfolgreich. Sedd wäre jedoch nicht Sedd, wenn er seine Großtat nicht vor seinen Großeltern und den Eltern des Mädchens verschwiege. Als Leserin möchte ich den gutherzigen Jungen schütteln und ahne doch, dass das Aufdecken seiner Tat den Bankdirektor zwar milde stimmen, den Niedergang des Hotels aber allenfalls verzögern würde.

Dieser ist und bleibt besiegelt, was von Anfang an kein Geheimnis ist. Bleibt zu erfahren, wie es mit Sedds und Karolines Freundschaft weitergeht, die manchmal nicht recht weiß, ob sie nicht doch etwas schüchtern-anderes sein möchte. Und welche Bewandtnis es mit dem geheimnisvollen Zimmer unterm Dach hat, das für Sedds Mutter als junges Mädchen eine besondere Rolle spielte und das dem Sohn während des ganzen Romans verschlossen bleibt, bis ganz zum Schluss … Huch!

Zurück zu den Hummern. Ihre Scheren sind mit Gummibändern umwickelt, damit sie sich nicht gegenseitig massakrieren, bevor sie gekocht und dem Gast serviert werden. Was der liebenswürdige und friedliche Held des Romans oder der Rest des Personals mit ihnen gemein haben, habe ich bis zum Schluss der Lektüre nicht ergründen können. Kein Kampf, kein Aufbegehren. Ich habe einen Roman über die stille Würde des Untergangs gelesen, über Haltung ‒ oder Realitätsferne? ‒ bis zum Schluss und über den brüchigen Trost von Freundschaft. Über weite Strecken habe ich die Geschichte über das einst glanzvolle Hotel so gelesen, wie man eine hundert Jahre alte Postkarte betrachtet, das Grandhotel in seiner Pracht stolz auf der Vorderseite, das Bild aber rissig und zerknittert wie vieles, dessen Zeit abgelaufen ist.

Ihre

Kristin Lange

Teilen: