Ich sehe aufregende Menschen oder wie kommen Autoren auf die Ideen?

Ich denke, ich bin Autorin geworden, weil ich Dinge sehe, die andere Leute nicht sehen – oder unfreundlich ausgedrückt, ich sehe Dinge, die gar nicht da sind. Aber sie könnten da sein, wenn die Dinge nur ein wenig anders lägen.

Nehmen wir als Beispiel meinen Mathelehrer, einen hageren Mann mit ungekämmtem braungrauem Haar und der Schwäche schneller zu rechnen als der Taschenrechner. Ein ganz gewöhnlicher Mathelehrer, wie man ihn an schwäbischen Kleinstadtgymnasien überall finden kann. Für meine Kameraden war nichts, aber auch gar nichts geheimnisvolles an diesem prosaischen Geschöpf, doch mich, die ich jede Woche 5 volle Stunden Mathe damit verbrachte, mir über ihn Gedanken zu machen, mich faszinierte er. Bald wusste ich alles über ihn.

Obwohl er meistens die ganze Woche dasselbe Hemd trug, sah ich ihn in einem gestrickten Pullunder, um den Hals eine abgewetzte Krawatte, Ellenbogenschoner auf den Ärmeln. Die Hose, das war eine alte, hastig umgefärbte Uniformhose, er war nämlich Leutnant gegen die Franzosen gewesen, unser alter langweiliger Mathelehrer. Bei Verdun hatte er einem Unteroffizier das Leben gerettet, seitdem hinkt er. Meine beste Freundin meinte zwar, dieses unleugbare Hinken käme von einem Autounfall, aber ich wusste es besser. Ich hatte das verstaubte Eiserne Kreuz gesehen, das ihm diese Heldentat eingebracht hatte. Es lag in einer Schublade seines Nussbaumschreibtisches, ganz hinten, verborgen unter einem Packen alter Briefe, Liebesbriefe einer Frau – bildschön, hellblond, doch längst gestorben. An der Schwindsucht, woran sterben bildschöne, hellblonde Frauen auch sonst?

Das traurige Schicksal dieses tapferen Mannes rührte mich so, dass ich anfing, sehr fleißig Mathe zu lernen. Nach all dem Unbill des Schicksals fand ich, hätte dieser Mann ein wenig Freude verdient. Mein Eifer hielt fast ein volles Jahr, dann traf ich ihn zufällig mit seiner Frau bei Ikea. Sie war klein, mollig und sehr fröhlich. Meine Noten sanken wieder auf Dreierniveau.

Verstehen Sie, was ich meine?

Wenn man mir Zeit zum Träumen gibt, bin ich umgeben von Dramen, von Schicksalen und Geheimnissen. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: mein Busfahrer.

Nur ich kenne den wahren Grund, warum er stets eine Sonnenbrille trägt oder warum er nur acht Finger hat. Und sein trauriges Schicksal macht mich milde, wenn er mich morgens wieder anraunzt, weil ich meinen Verbundspass nicht auf Anhieb finde. Der rüde Ton ist ein Überbleibsel seiner Jahre beim KGB, genau wie die fehlenden Finger, ein hässliches Andenken an den kalten Krieg.  Man muss verständnisvoll mit diesem Mann sein.

Verständnisvoll, aber man muss ihn auch genau beobachten – dafür ist man schließlich Autor und wer weiß, wann man mal einen russischen Geheimagenten für einen Geschichte brauchen kann?  Oder einen Verdunoffizier wie meinen Mathelehrer?

Mein Tipp zur Ideenfindung ist deshalb der folgende: Schauen Sie sich um, beobachten Sie genau und lassen Sie dann einfach Ihre Fantasie von der Leine! Sie wird Ihnen bestimmt interessante Jagdbeute heimbringen!

In diesem Sinne: Halali!

Ihre Joan Weng

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Ein Gedanke zu „Ich sehe aufregende Menschen oder wie kommen Autoren auf die Ideen?“

  1. Stimmt – aber ich selbst hab’s mir wohl vor rund 20 Jahren abgewöhnt. Vielleicht sollte ich mal wieder back to the roots …? Zumindest hat mich Dein Beitrag bewogen, mal wieder darüber nachzudenken. 🙂

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