Früher habe ich hier manchmal über die geschmacklichen Vorlesedispute mit meinem kleinen Neffen geschrieben. Und obwohl mein Neffe inzwischen größer ist als ich und ich ihm auch nicht mehr vorlese, kommen wir geschmacklich – beim Lesen – auf keinen Nenner! Kürzlich fragte ich ihn, was er sich denn zu Weihnachten wünsche, vielleicht was Schönes von Hohlbein, dessen Hagen von Tronje zu meiner Zeit jeder fünfzehnjährige Junge gelesen hat. Eine sprachlich eher … na ja … rasch lesbare Erzählung um die Motive des Mannes, der Siegfried verriet und damit immerhin die „Hagentreue“ erfand.
Mein Neffe sah mich an, halb mitleidig, halb schockiert, er brauchte nichts zu sagen.
Ich wurde eifrig, schlug ihm Ross McKenzies „Immernacht“ vor, eine preisgekrönte Fantasygeschichte über Schatzsuche, böse Königinnen, Dschinns und … Ich musste nicht weitersprechen, mein Neffe blickte nun eindeutig mitleidig. Arme, alte Frau, stand ihm in Leuchtschrift in den Augen. Aber er ist ein lieber Kerl, deshalb schlug er vor, ich sollte ihm doch einen Band der Reihe „One of Us Is Lying“ von Karen M. McManus kaufen. Highschool-Krimis mit rasanten Wendungen und wirklich überraschenden Auflösungen. Jetzt war ich es, die schockiert dreinsah. Bevor ich ihm diesen kommerziellen Hypekram kaufte, würde er einen Gutschein bekommen!
Na, dann vielleicht Kevin Brooks’ „iBoy“, das fanden seine Freunde alle voll geil. Ein immerhin für den Deutschen Jugendbuchpreis nominierter Roman über einen ganz normalen Jungen, der nach einem Unfall ein iPhone im Kopf hat, dank dem Superkräfte entwickelt und …
Wir haben es dann dabei belassen und uns auf die illustrierte Version von Harry Potter geeinigt, das mögen wir beide.
Ihre Joan Weng