Kristin liest: Katharina Adler ‒ Ida

Mit diesem halbbiografischen Roman hat die Autorin knapp vierzigjährig ihr Debüt vorgelegt. Es geht darin um ihre Urgroßmutter, Ida Adler, die ihrerzeit eine der berühmtesten Patientinnen Siegmund Freuds war und als Fall Dora in die Geschichte der Psychoanalyse einging. Bei der Planung des Buchs stand Katharina Adler vor dem Problem, dass konkretes biografisches Material wie Briefe oder Tagebücher nur spärlich vorlag. Beim Recherchieren war die Urenkelin also vor allem auf mündliche Tradition in Form von Familienanekdoten angewiesen ‒ und auf ihre schriftstellerische Fantasie, mit der sie die reichlich vorhandenen Lücken füllte.

Fakt ist, dass Ida in einer gleichermaßen industriell erfolgreichen wie musisch-gebildeten jüdischen Familie in Wien aufwuchs. Katharina Adler montiert hier geschickt verschiedene Zeitebenen und springt zwischen diesen hin und her, was aber zum Glück nie verwirrend ist. Mit der späteren, schon älteren Ida erleben wir den aufkommenden Nationalsozialismus und den Kampf ihres berühmten Bruders Otto für die österreichische Sozialdemokratie und die Etablierung des Austromarxismus, dessen Mitbegründer er war. Wir verfolgen Idas hanebüchene und beinahe scheiternde Last-Minute-Emigration nach Amerika. Und wir erleben Ida als eine kettenrauchende und kantige Person, die weitgehend darauf pfeift, ob sie gemocht wird oder nicht, und daher entsprechend uncharmant und nicht als unbedingte Sympathieträgerin auftritt.

Das alles ist interessant. Spannend wird es immer dann, wenn wir uns in Rückblenden mit Ida auf die Psychoanalyse-Couch begeben. Ida ist zu der Zeit achtzehn und besucht, von allerlei psychosomatischen Symptomen geplagt und von ihrem Vater gedrängt, Tag für Tag die Ordinationsräume des Sigmund Freud in der heute berühmten Berggasse 19. Zuvor hat sie schon etliche aus heutiger Sicht schräge Therapien absolviert, um ihren Sprech- und Atembeschwerden beizukommen, was recht originell zu lesen ist.

Die Wortgefechte zwischen Sigmund Freud und Ida Adler habe ich mit großem Vergnügen, aber auch mit wachsendem Unmut gelesen. Nichts kann Ida sagen, nichts denken, nichts träumen, was ihr nicht als unterschwelliges sexuelles Verlangen ausgelegt würde. Sie, obwohl alles andere als auf den Mund gefallen, ist dabei völlig chancenlos: Jeder Widerspruch ist für den stark in den Schemata seiner Lehren denkenden Sigmund Freud gerade ein Beweis dafür, dass seine Deutungen richtig sind. Das geht so weit, dass im Nachhinein die amouröse Annäherung eines Familienfreundes an die damals dreizehnjährige Ida (ein Vorgang also, den man heutzutage sexuellen Missbrauch nennen würde) als unbewusstes Begehren Idas interpretiert wird. Festgemacht wird das zum Beispiel daran, dass Ida sich in der Stadt ein Täschchen kauft ‒ und wie wir alle wissen, ist der Kauf eines Täschchens selbstverständlich ein deutliches Anzeichen unterdrückter Triebe.

Nun ist Ida mit ihren achtzehn Jahren dem berühmten Nervenarzt zwar weder verbal noch intellektuell gewachsen, verfügt jedoch über jede Menge gesunden Menschenverstand. Nach nur drei Monaten entzieht sie sich der neuartigen Therapie, eher instinktiv und sehr zum Verdruss von Freud, der ihr in seiner Fallstudie Bruchstück einer Hysterieanalyse beleidigte Sätze hinterherschrieb wie: „Es sind gewiss interessantere Krankengeschichten von Hysterischen veröffentlicht worden.“

Ida ist eins der Bücher, die dazu inspirieren, tiefer ins beschriebene Zeitgeschehen einzutauchen. Vielleicht machen Sie es nach der Lektüre wie ich und greifen zu dem dicken Freud-Band, der in Ihrem Bücherregal vor sich hin staubt und den Sie sich immer schon einmal vornehmen wollten. Der Griff lohnt: Freud konnte schreiben, klar und erstaunlich kurzweilig. Und gerechterweise muss man sagen, dass seine viel gerühmte Sprechkur die junge Ida zumindest zum Teil von ihren Beschwerden befreien konnte.

Ihre Kristin Lange

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