»Meine Güte, was hat er sich dabei gedacht?«
Miss Marple starrte auf das Haus, das rundum von Efeu und wer weiß was noch bewachsen war. »Wie soll ich denn da hineinkommen?« Sie stieß das schief in den Angeln hängende Gartentor an, um sich zu versichern, dass es sich nicht öffnen ließ, doch quietschend schwang es auf. Sie seufzte und ging hinein. Schlingpflanzen wucherten über den Weg, doch hatte irgendjemand etwas Platz geschaffen, und sie konnte ungehindert bis zum Haus gehen. Als hinter ihr erneut das Quietschen zu hören war, drehte sie sich erschrocken um. Das Gartentor hatte sich wieder geschlossen. »Jane – du wirst doch auf deine alten Tage nicht ängstlich werden!«, flüsterte sie sich selbst Mut machend zu und klopfte an die Tür des Hauses. Niemand kam, um ihr zu öffnen. Sie wollte noch einmal klopfen, da öffnete sich auch diese Tür, wie von Geisterhand bewegt. Resolut schritt die alte, hochgewachsene Dame ins Haus, den Kopf erhoben, sich suchend umschauend. Wäre ein Besucher anwesend gewesen, so hätte er ihre blauen Augen leuchten sehen können. Doch es schien niemand da zu sein.
»Hallo?!«, rief sie, und noch einmal: »Hallo?!«.
Es hallte ein wenig in dem dunklen Raum. Sie ging ein paar Schritte, blieb stehen. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Die Fenster waren zwar zum Teil durch den äußeren Bewuchs abgedunkelt, aber ein wenig Licht kam doch herein. Eine Treppe führte nach oben.
»Hallo?! Mein Neffe, Raymond West, hat mich hierher beschieden. Es soll um eine Erbschaft gehen. Ist denn hier niemand?«
Sie war unsicher, was als Nächstes zu tun sei. Sie konnte umkehren und wieder gehen, aber dann würde sie niemals erfahren, warum Raymond sie so dringend hierher beordert hatte. »Wir sehen uns dort«, hatte er gesagt, bevor er das Telefonat beendete. Ob sie das Haus verwechselt hatte? »Ach was«, sagte sie sich. »Ich bin doch nicht tatterig. Meine Sinne habe ich alle noch beisammen.« Entschlossen ging sie die Treppe hoch. Oben angekommen blieb sie stehen und versuchte sie sich in der dämmrigen Dunkelheit zu orientieren. Ein Geräusch ließ sie sich nach links wenden. Vor Schreck fiel ihr die Tasche aus der Hand und polterte die Treppe herunter. Links saß Raymond, ihr Neffe in einem Sessel, gefesselt und geknebelt. Sie wollte zu ihm eilen, doch er schüttelte mit schreckgeweiteten Augen den Kopf und deutete in die andere Ecke, wo es noch düsterer war. Aus dem Dunkel kam ein heiseres Lachen. Dann zischte ein Streichholz. In der aufflackernden Flamme sah Jane Marple eine Frau in Männerkleidern, ebenfalls in einem Sessel. Mit dem Streichholz entzündete sie eine Kerze, deren flackerndes Licht gespenstisch durch den Raum wogte.
»Wer sind Sie? Und was haben sie mit meinem Neffen gemacht?«
Die dunkle Stimme der Frau – war es eine Frau? – empfand sie als unangenehm. »Ich bin Gräfin Rossakoff, Vera Rossakoff. Und was ich mit ihrem Neffen zu schaffen habe – nichts. Oder alles.«
Jane Marple trat einen Schritt auf die Gräfin zu. Die hob in aller Ruhe eine Pistole. Erschrocken hielt die alte Dame an. »Er ist ihr Neffe«, sagte die Gräfin. »Das reicht mir, um ihn zu kidnappen. Er ist mein Köder, der sie hierherlocken sollte. Ich hasse sie so abgrundtief.«
»Ich kenne sie doch gar nicht, wie können sie mich da hassen?«
»Es reicht, dass ich sie kenne«, sagte die Gräfin. »Sie sind die Person, die verhindert, dass der Belgier als der einzige und größte Detektiv aller Zeiten anerkannt wird.«
»Der Belgier?«
»Hercule Poirot!«
»Kenne ich nicht. Sind Sie seine Frau?«
Die Gräfin lachte. »Wohl kaum. Ich bin seine Widersacherin. Aber ich bewundere ihn auch. Wenn ich einmal gefasst werde, dann soll er es sein, der das schafft. Doch das wird er nicht, auch wenn er’s könnte, würde er es nicht tun.«
»Meine Güte«, sagte Miss Marple. »So lassen sie ihn doch den größten Detektiv sein. Ich bin doch gar kein richtiger Detektiv. Für mich ist das alles nur ein Hobby. Genau genommen könnte ich auch sagen: Das hat die zu verantworten, die uns alle erfunden hat.«
»Sie machen es sich zu leicht.«
»Keineswegs, ich …«
»Seien Sie still. Ich will nicht mit Ihnen diskutieren. Sagen Sie mir hier und jetzt zu, dass sie mit dem Detektivspielen aufhören werden. Ab sofort. Für immer. Sonst …«
»Was ist sonst?«
Die Gräfin hob die Pistole und zielte auf Raymond West. Der stöhnte laut auf, soweit das sein Knebel zuließ.
»Nun reicht es aber!«, rief Jane Marple. »Ich kann ihnen nicht versprechen, dass ich sofort aufhöre. Das liegt auch nicht allein bei mir. Wenn sie – die Person, die uns erfunden hat – mich morgen wieder losschicken sollte, um einen Mord oder ein sonstiges Verbrechen aufzudecken, was können wir dagegen tun?«
Die Gräfin machte ein bedauerndes Gesicht, hob die Pistole schoss auf Raymond West. Der zuckte im Sessel in seinen Fesseln. Die Gräfin schoss noch zweimal, dann lag er still. Starr vor Schreck hatte Jane Marple zugesehen. Nun liefen ihr die Tränen herunter. »Er war ein so guter Junge. Mussten sie das tun?«
»Ja, das musste ich. Und nun muss ich auch sie erledigen, denn es darf keine Zeugen für diese Vorfälle geben.«
Sie hob die Pistole und zielte auf Miss Marple. Da peitschte ein Schuss durch die Stille. Die Gräfin sackte zusammen und Miss Marple schaute zur Treppe. Dort erschien ein kleiner Mann, wie ein Dandy gekleidet. Jane Marple war er gleich unsympathisch.
»Isch ’abe es nischt gern getan«, sagte er, als er sich über die Gräfin beugte. »Aber es musste sein, mindestens zum Beweis, dass isch es doch tue.«
»Wer sind Sie?« Jane Marples Stimme zitterte. Heute war es eindeutig ein wenig zu viel von allem.
»Poirot, Madame, Hercule Poirot.«
»Ach, dieser Franzose …«
»Belgier!«
»… von dem diese offensichtlich russische Gräfin so geschwärmt hat.«
»Leider, leider. Aber sie ist zu weit gegangen.«
»Ich werde jetzt gehen, werde langsam müde. Aber auf dem Heimweg mache ich noch Halt bei der Polizei und erzähle dort alles.«
»Das wird schwierig werden«, sagte der belgische Detektiv. »Der Autor dieser Geschichte hat offensichtlich vergessen zu beschreiben, wie wir hier wieder rauskommen!«
»Aber … aber so etwas tut die gute Agathe doch nie!«, zweifelte Jane Marple.
»Die hat die Geschichte auch nicht geschrieben. Diesmal war es ein Spanier, ein gewisser Luis B.«