Da waren sie wieder: Wie in jedem Jahr fielen Literaturverrückte aus den entferntesten Ecken Deutschlands in unsere beschauliche Prignitz ein. Plötzlich tauchten in Putlitz sechs keramische Gänse auf; man redete von einem skurrilen Literaturpreis, bei dem sie als Trophäen dienen würden. Ich zumindest kannte das Prozedere, Familie und Freunde wunderten sich wieder einmal.
Seit 2018 ernte ich irritierte Blicke, sobald ich begeistert von meiner Tätigkeit als Vorleserin beim „Putlitzer Preis“ erzähle: „Echt, ich wusste ja gar nicht, dass du auch in New York auftrittst.“ Nach näherer Erläuterung schließlich: „Ach so. Aber sonst interessiert sich doch kaum jemand für diese Region? Und wer sind die 42erAutoren? Kommt dieser Rico Beutlich auch?“ Das alles ist jedoch deutlich weniger ernüchternd, sobald die ersten Gleichgesinnten eintreffen.
Dieses Jahr erfolgte die erste Zusammenkunft am 10. Juni bei der traditionellen Scheunenlesung. Und endlich durfte ich offiziell und gleichberechtigt mitmachen – so als (einigermaßen) frischgebackenes Vereinsmitglied. Ich war stolz wie Bolle.
Los ging es mit Amos Ruwwe, seinem Roman „Alles bleibt anders“ und der Frage, wie sich das Leben junger Männer nach Eingang eines Musterungsbefehls verändert. Ulrike Maier und Joachim Off stritten sich mit ihren Beiträgen um den Titel „größter Partykiller“ – anhand der Schluckgeräusche aus trockenen Zuschauerkehlen ließ sich leider kein endgültiger Sieger ausmachen. Ausnahmslos gepackt waren wir vom Schicksal eines Mädchens, das im Nationalsozialismus von seiner Mutter vernachlässigt wurde, und den schauerlichen Eindrücken eines Sterbepflegers. Horst-Dieter Radke spann diese Atmosphäre in seiner „märchenhaften Schauergeschichte“ weiter. Seine Ukulele kam zur großen Überraschung und Begeisterung aller ebenfalls zum Einsatz. Beate Paul las anschließend das Kapitel „Der hypothetische Sohn“ aus ihrem Roman „Agathes Haus“, und ich teilte meine Erfahrung als Jugendliche und lizensiertes Prignitzer Landei.
Ein lustiger Plattdeutsch-Beitrag, gelesen von Max Haetzer, durfte auch in diesem Jahr nicht fehlen. Genauso wenig wie die großartige Moderatorin und Poetry-Slammerin Claudia Kociucki. Sie performte über den Abend verteilt drei kurze Texte aus der thematischen und stilistischen Bandbreite ihrer Lesebühnenprogramme und stellte wie selbstverständlich bei der Anmoderation die richtigen Fragen.
Auf diese Weise konnte ich am nächsten Tag erstaunlich ausgeruht in der Putlitzer Kirche antreten. Zwei Stunden vor der Preisverleihung fand nämlich die aufwendige Generalprobe statt. Warum denn das? Na ja, die Siegertexte des Putlitzer Preises werden seit jeher von Schülerinnen und Schülern meines (mittlerweile ehemaligen) Gymnasiums vorgetragen. Dieses Jahr hatte ich die ehrenvolle Aufgabe des Coachings übernommen und würde für einen Text auch selbst ans Mikro treten – aber die finale Probe wurde durch einen ungebetenen gefiederten Gast erschwert. Mit Schwalben würde ich sonst eigentlich nur auf dem parallel in der Prignitz stattfindenden Simson-Treffen in Berührung kommen, hatte ich gedacht.
Mit meinen tapferen Vorleserinnen Emely, Chiara, Zoe, Vicky und Vorleser Tobias ging es schließlich zurück zur Pfarrscheune, wo wir die zwei angereisten Preisträgerinnen Tanja Beetz und Aylin Ünal in Empfang nahmen und – ganz professionell – literarischen Small Talk führten. Angeführt vom Fanfarenzug zogen wir daraufhin wieder in die Kirche ein, und es war Showtime. Jo mimte den Co-Moderator von Rico Beutlich, welcher zur Verwirrung mancher gän(s)lich nicht erschienen war. Also wirklich, so was macht man als seriöser und erfolgreicher Autor doch nicht! Sein Fernbleiben symbolisierte quasi das „Nichts“ – unter diesem Wort hatte die diesjährige Ausschreibung des Kurzgeschichtenpreises gestanden. Von Rico tief getroffen, machte sich Jo erst mal Gedanken über Maultaschen und wurde – ob des schwäbischen Dialekts oder seiner kritischen Haltung bezüglich des Querdenkens – sogleich der Spaltung der Gesellschaft bezichtigt.
Ich bekam die erste Flasche Wein meines Lebens geschenkt, das „Ensemble Zero“ spielte in Perfektion, meine Vorleser:innen machten ihre Sache großartig und erfanden den Trommelwirbel neu. Vor allem aber wurden die stolzen Preisträgerinnen und Preisträger geehrt. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Glückwunsch! Die Platzierungen lauten:
Platz 6: „Monsieur A. lässt nicht grüßen“ von Birgit Rabisch, gelesen von Vasiliki Markou
Platz 5: „Zimtzauber“ von Tanja Beetz, gelesen von Zoe Ahrens
Platz 4: „Dampfdruckrevolution“ von Jochen Mariss, gelesen von Tobias Hampe
Platz 3: „Tote Männer“ von Christin Habermann, gelesen von Chiara Mall
Platz 2: „Der Staub in den Fugen“ von Aylin Ünal, gelesen von Emely Schneider
Platz 1: „Das Optimum“ von Barbara Ostrop, gelesen von mir
Sobald die Gänse verteilt und die imaginären Maultaschen verzehrt waren, fanden wir uns wieder in der Pfarrscheune ein und machten uns über die weithin gerühmte Spargelsuppe her. Diesmal wurden anstelle literarischer Themen hauptsächlich Schmerzmittel ausgetauscht, denn die Rutschgefahr in Prignitzer Badezimmern hatte auch manchen 42er in Gefahr gebracht. Doch das Lagerfeuer wärmte alle Gelenke und sorgte für eine gemütliche Stimmung.
Spät in der Nacht brachen wir nach und nach auf. Ich fuhr in mein Heimatdorf und empfand tiefen Triumph darüber, das tolle Putlitz-Wochenende nicht nur zum vierten Mal, sondern vor allem erstmalig als Vereinsmitglied erlebt zu haben. Überdies ist es immer wieder spannend, Gäste in der Prignitz zu haben, die von den hiesigen Gepflogenheiten mehr als überrascht sind.
Ich freue mich schon aufs nächste Jahr, wenn ich als Ortsansässige wieder über Simson-Touren, die heimische Presse und Übernachtungsmöglichkeiten aufklären darf. Mein Fazit: In Putlitz ist’s doch am schönsten!
Bis zur nächsten Preisverleihung!
Ihre Sophie Kamann
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