Schreiben im Senegal – Teil 5

Wenn ich mit Einheimischen spreche, ist Reisen immer ein Thema. Khady sagt, die Politik müsse sich bemühen, den Zustand zu ändern, der im Moment herrscht: Die Europäer reisen ohne großen Aufwand hierher, während die Senegalesen zunächst einmal für viel Geld eine Menge Papiere besorgen müssen, ehe sie überhaupt ein Visum für Europa beantragen können, das dann trotzdem oft abgelehnt wird. Das ist nicht gerecht.

Bei anderer Gelegenheit geht es direkter zu. Der etwa 60-jährige Vater meiner senegalesischen Mitbewohnerin fragt mich, ob ich ihn nach Deutschland einladen kann. Er hat Geld, er kann seinen Flug und seine Unterbringung selbst bezahlen – was ich ihm glaube, denn es gibt im Senegal durchaus eine vermögende Mittelschicht, die sich Reisen nach Europa leisten kann. Er will seine Familie und sein Zuhause nicht für immer verlassen, er möchte Europa und insbesondere Deutschland einfach nur einmal sehen. Dafür braucht er eben diese Einladung. Ich erkläre ihm, dass eine Einladung bedeutet, dass ich mich verpflichte, für seinen kompletten Aufenthalt aufzukommen, und dass ich das nicht kann. Das versteht er, zumindest nickt er. Als ich ihm sage, dass ich als Schriftstellerin wenig verdiene, nickt er ebenfalls. Aber dass ich kein eigenes Haus habe, sondern mir eine Wohnung teile, erstaunt ihn. Er fragt mich, ob das Leben in Deutschland auch manchmal schwer sei. „Natürlich“, sage ich, „es ist kein Paradies.“ Er scheint ernsthaft überrascht. Ein Besuch könnte vermutlich helfen, sein Bild vom Leben in Deutschland zu verändern. Am Nachmittag steige ich zum Arbeiten manchmal aufs Dach, auf dem mein Gastgeber mir einen Arbeitsplatz eingerichtet hat. Natürlich nicht ergonomisch, aber immerhin mit einem gewissen Abstand zum Straßenlärm.

Das Einrichten des Arbeitsplatzes dort oben hat ein paar Tage gedauert, denn leider ist das Dach bei meiner ersten Besichtigung ziemlich zugemüllt. Überhaupt, der Müll. Die ersten Tage registriere ich ihn mit einem „Das ist Afrika“-Gedanken. Doch nach ein paar Tagen geht es mir auf die Nerven, dass hier überall Müll herumliegt: an Straßenecken oder auf den Dächern, die sehr gemütliche Terrassen sein könnten. Ich vermute, die Senegalesen würden ihren Müll auch lieber anders entsorgen, allein: Es gibt hier wenig Möglichkeiten. In Dakar kommt immerhin einmal in der Woche die Müllabfuhr für den Hausmüll, den man dann direkt beim Fahrer abgibt. Städtische Mülltonnen gibt es nicht, und wer seine privaten Tonnen vor die Tür stellt, findet sie später nicht mehr wieder, weil jemand anders sie sich geschnappt hat. Sperrmüllentsorgung kann man gegen Extrageld bestellen, aber das machen die Leute eher selten, wozu auch, wenn sowieso überall Müllberge sind, aus denen sich immer mal wieder jemand etwas nimmt, was er noch gebrauchen kann. So stehen und liegen überall: ausrangierte Polstermöbel, fleckige Teppiche, kaputte Regale, alte Kühlschränke oder die Verpackungen für riesige Flachbildschirme.

Auf den Dörfern ist es noch schlimmer, da sammelt und verbrennt man den Müll auf dem eigenen Hof oder am Dorfrand. Oft bleibt er einfach liegen.

Christine erzählte, sie sei einmal auf einen Baobab zugefahren, dessen eigentlich braune, wie Ratten am Baum hängende Früchte in allen Farben schimmerten. Bei Näherkommen erkannte sie, dass sich vom Wind verwehte Plastiktüten um die Früchte geschlungen hatten. Die Straßenhändlerinnen wollen mir auch jedes Mal meine drei Bananen in eine Tüte packen und sind überrascht, wenn ich das ablehne. Nicht, dass ich mir einbilde, damit das senegalesische Müllproblem zu lösen, aber gelernt ist gelernt, das gilt auch bei Müllvermeidung.

Ich vermute, in ein paar Tagen werde ich den Müll übersehen, so wie vermutlich die meisten Senegalesen. Ganz nach dem Motto: Ich nehme die Dinge hin, die ich nicht ändern kann.  Tagsüber gibt es kein Wasser? Man füllt sich abends mehrere 10-Liter-Flaschen als Vorrat für den nächsten Tag. Man hat sein Smartphone im Taxi liegengelassen? Schade, aber nicht schlimm (es wird übrigens in diesem Fall am nächsten Tag zurückgegeben). Die Nachbarn oder die Moschee malträtieren die Umgebung abends mit lauten Gesängen? Es wird schon nicht die ganze Nacht dauern. Es lohnt nicht, sich über dergleichen aufzuregen. Das ist eine Haltung, die mir in Afrika oft begegnet und fremd ist. Ich bin es gewohnt, dass Probleme zeitnah (schon dieses Wort existiert auf Wolof vermutlich nicht) gelöst werden und die Dinge zur Verfügung stehen, immer, sofort, ohne Einschränkung. Hier arrangiert man sich damit, dass die Welt nicht perfekt ist. Vielleicht ist es diese Gelassenheit, die ich hier suche. Die mir hilft, meinen Roman über einen Äthiopier zu schreiben, bei dessen Biografie ich mich nicht nur einmal frage, wie er sein wechselvolles Leben gemeistert hat. Gelassenheit in einer unperfekten Welt war möglicherweise ein entscheidender Schlüssel dazu. Trotzdem frage ich mich an manchen Tagen, ob es wirklich hilfreich ist, hier zu schreiben und nicht zu Hause, an meinem ergonomischen Arbeitsplatz in meiner geordneten Welt. Dann schaue ich auf die Berliner Wetterdaten und auf die Corona-Nachrichten und beschließe, weiter mit senegalesischen Großfamilien Reisgereichte von einer großen Platte zu essen und vielleicht noch einmal für eine Woche auf die Insel zu fahren. Der Rückflug kann warten.

Ihre

Dorrit Bartel

Teilen: