Weiße Weihnacht

Jürgens Schietwettergeschichte

Alles sah nach weißer Weihnacht aus, aber dann fing es an zu tauen. Auf der Straße lag zwischen den Fahrspuren ein immer dunkler werdender Schneestreifen. Die Luft war grau, und Mama sagte, man könnte den Neuschnee förmlich riechen, wie er auch nur zu neuem Matsch werden würde.

Ich guckte als junger Wolf aus dem Fenster, um womöglich den Nikolaus im Gestöber zu entdecken. So wurde ich abgelenkt, während Mama und Papa hinter verschlossener Wohnzimmertür zugange waren. Ich war nur wütend, dass für meine große Schwester das Wohnzimmerverbot nicht galt. Meine Wut steigerte sich noch, weil sie betont gelangweilt das Wohnzimmer betrat und noch gelangweilter wieder herauskam.

Das macht die extra, nur um mich zu ärgern!

Ich wusste schon, was ich vom Weihnachtsmann bekam: Eine Carrerabahn, und zwar die professionelle, im Maßstab 1 zu 24, in der Avus-Einsteigerpackung mit zwei Rennwagen der Formel Eins, weißem BMW und rotem (was sonst?) Ferrari. Diese Avus-Rennstrecke hatte die Acht-Form, die, sagte mein Vater, sei gerecht, da man in jeder Runde mal die Außen- und mal die Innenspur befuhr. Die Außenbahn hatte den Nachteil, dass man, wenn der Wagen nach außen ausbrach, aus der Kurve geschleudert wurde.

Leider durfte ich bei solchem Schietwetter wie jetzt nicht im Matsch spielen. Mama sagte immer:

Deine Klamotten sind in Nullkommanix klitschnass. Und wer darf stundenlang in der Waschküche stehen? Siehst du. Außerdem ist es viel zu gefährlich, die Autofahrer rasen wieder wie die gesengten Säue!

Ich bin mir gar nicht so sicher, ob wir zu jener Zeit nicht schon eine richtige Waschmaschine im Keller stehen hatten, Miele oder Bauknecht, eine gute Marke jedenfalls, mit der das Waschen wie von alleine ging. Aber leider kann ich nicht sagen, was ich darauf erwidert habe. Vielleicht jaulte ich nur:

Kackscheiß!

Da blieb mir also nichts anderes übrig, als mich in meinen Bau zurückzuziehen und mich wie letztens, war noch gar nicht so lange her, am Schloss meiner Zimmertür zu schaffen zu machen. Was genau ich damals im Schilde führte, keine Ahnung, ich musste schon ein seltsames Wesen gewesen sein. Ich brökelte also an meiner Tür herum und habe es irgendwie zustande gebracht, den Schlüssel in einer Weise zu drehen, dass das Schloss plötzlich zuschnappte und ich eingesperrt war.

Kackscheiß!

Ja, dumm gelaufen. Jedenfalls brach Panik aus, auf beiden Seiten der Tür, drinnen bei mir, der etwas angestellt hatte, was anderen Arbeit machte, draußen bei meiner herbeigerufenen Mutter, die die Arbeit hatte.

Und dann war ich in der Aufregung auch noch zu schlau, den Schlüssel rechts herumzudrehen, zum Schornstein hin, wie Mama mir mit immer schriller werdender Stimme durchs Schlüsselloch zurief. Welches Rechts meinte sie denn?, fragte ich erst mich, dann sie, und dann wieder mich. Denn wenn man einen Schlüssel in eine Richtung dreht, dann bewegt sich nur der obere Teil dorthin, während der Schlüsselbart erst mal in die entgegengesetzte Richtung, also zum Fenster hin ausschlägt. Man muss sich das jetzt selber bildlich vorstellen, vielleicht auch eine Skizze zum besseren Verständnis zeichnen.

Also, ich drehte und drehte, und Mama schrillte und schrillte, bis gar nichts mehr ging und ich schon Angst hatte, dass ich aufs Mittagessen verzichten musste. Aber so weit kam es nicht, mein Opa wurde gerufen, der stellte kurzerhand die Leiter an die Hauswand, bummerte von außen an die Scheibe und bedeutete mir, das Fenster zu öffnen. Aber wie? Nach links drehen. Kein Problem, nur, welches Links? Soll der obere Teil vom Fenstergriff oder der untere Teil zur Tür hin gedreht werden, wo sich die Katze selber in den Schwanz biss?

Opa brummelte nur was, und wupps! war das Fenster auf, das heißt, es hing in den Angeln, weil man vorher den Hebel fürs Kippen bzw. Öffnen hätte betätigen müssen, nach oben bzw. nach unten. Auch da: Der untere Teil des Hebels bewegt sich entgegengesetzt zum unteren, es war schon kompliziert. Aber darüber habe ich gar nicht mehr gegrübelt, nobody is perfect, wie durch ein Wunder ging das Fenster auf, und das Rausreichen des Schlüssels war nur noch ein Klacks. Opa stieg brummelnd wieder herab, und dann gab‘s Mittagessen.

Wenn ich alles noch mal Revue passieren lasse, ist schon klar, wieso ich immer im Garten und auf Bäumen spielen musste. Jedenfalls, wenn kein Schietwetter war.

Jetzt zurück zu Heiligabend, Schnee und Matsch, weit und breit ließ sich keine rote Zipfelmütze blicken, so hatte ich in einem unbewachten Moment durchs Schlüsselloch der Wohnzimmertür geluschert. Drinnen hörte ich Papa, wie er Weihnachtslieder von seinem Tonband abspielte.

Schneemann mit der roten Nase.

Das war auch so eine Tradition von uns, bzw. eine Marotte von ihm, das Tonbandgerät zu Weihnachten aus der untersten Lade des Stubenschrankes zu wuchten und mit viel Geklicke und Geraschel in Gang zu setzen, sodass die Bänder jaulend anliefen.

Jetzt fehlte zu unserem Glück nur noch die Weihnachtsgans, deshalb musste nun meine Schwester ins Schnee- und Matschgestöber raus und zum Konsum hin, so hieß der erste Supermarkt in unserem Viertel. Auf dem Zettel stand eine Gans, bloß keine Ente, denn die ist für zwei Leute zu viel und für drei zu wenig.

Kackscheiß, wieso nicht der Wolf?

Sie setzte sich die rote Pudelmütze auf und ging maulend ab.

Ich saß am Fenster, aber sah nichts als graues Getöse. Da schrie Mama auf, ein Schrei, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Das Weitere kriegte ich nur noch mechanisch mit, es spult sich bis heute in einem Endlosband ab. Durch die runde Maueröffnung im Hauseingang sehe ich auf dem Gehweg die rote Pudelmütze liegen. Wo ein besoffener Kadettfahrer über den Matschstreifen in den Nachbarzaun gekracht ist.

Dann weiß ich noch: Die Eltern auf dem Sofa, ich vor dem Tannenbaum, diesmal ohne Lametta, sondern mit Schnee aus der Sprühdose, und unten drunter mein in Packpapier eingeschnürtes Geschenk.

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