Der schlohweiße General
Wir schrieben das Jahr 1816, als der junger Husarengeneral Boris Iwan Iwanowitsch einiges Aufsehen in den Salons der feinen St. Petersburgergesellschaft erregte.
Grund der Berühmtheit war keineswegs sein allseits bekannter Mut, obwohl er diesen in zahlreichen Schlachten gegen Napoleon hatte beweisen können. Es war nicht sein sagenhafter Reichtum oder seine Tollkühnheit zu Pferde. Auch war es nicht sein schöner, schlanker Wuchs oder die Anmut seiner Züge. Nein, seinen absonderlichen Ruhm verdankte er allein seinem Haar.
Oder um genau zu sein: seinem Haupthaar – denn während der Schnurrbart im tiefen Blauschwarz einer Rabenfeder über den herrisch geschwungenen Mund flutete, waren seine Locken schlohweiß. Das Haar eines Greises umwogte das jugendliche Gesicht, von einem Tag auf den anderen war Boris Iwan Iwanowitsch ergraut. Man spekulierte damals viel und wild, doch tatsächlich kennen nur zwei Menschen die grausige Wahrheit. Boris Iwan Iwanowitsch selbst und ich, der Schreiber dieser Zeilen.
Und da Boris Iwan Iwanowitsch schon vor vielen Sommern an den Folgen seines so reich und ausschweifend geführten Lebens starb und auch ich den Tod nun nahen fühle, ist es gleichsam mein letzter Wunsch und Wille, mein Gewissen zu erleichtern. Nicht länger kann ich die schreckliche Bürde alleine tragen.
Das elterliche Gut Boris Iwan Iwanowitsch‘ lag tief im ewigen Winter Sibiriens. Nur selten besuchte die Familie es, zu weit und gefährlich war der Weg, zu schlecht die Straßen. Durch Verwalter ließen sie es seit Generationen bewirtschaften, während sie selbst auf dem Schlachtfeld oder am Billardtisch den Ruhm ihres Hauses mehrten, ihn im Duell verteidigten. Und doch fühlte ich, der Verwalter, mich im Herbst des Jahres 1816 gezwungen mich an den jungen Fürsten selbst zu wenden, seine Anreise zu erbitten.
Bei der ersten Schönheit hatte ich mir noch nichts gedacht. Blass und blond war sie immer schon gewesen, die Blutarmut lag in der Familie. Ihre Schwester tat es ihre gleich, doc bei der dritten, deren Haar fast noch heller, begann das Geraune. Die Bauern, ein vorsichtiger, ein misstrauischer Menschenschlag, sie sperrten ihre Töchter ein. Es half nichts, es folgten weitere, das Haar mal gelb wie Stroh, dann wieder weiß wie Schnee. Aber erst als auch die alten Weiber, die runzligen Mütterlein ganz fern jeder Eitelkeit, ja die Männer gar, sich betroffen zeigten, erst da war ich mir sicher, erst da schrieb ich Boris Iwan Iwanowitsch, erbat untertänigst sein Kommen.
Es gab keinen Zweifel an meiner schauerlichen Entdeckung mehr: Wasserstoffperoxid raubt allem die Farbe. Wasserstoffperoxid weißt das Haar.
Happy Halloween wünschen
Joan Weng & das gesamte Blogteam