Aus der Tonne gezogen – 3: Der Kampf der Tertia

Alte Taschenbücher finden sich häufig in der Tonne, viele schiefgelesen mit Eselsohren, vom Wasser aufgequollen oder mit abgerissenem Umschlag. Für diese Bücher kommt jede Rettung zu spät. Kaum jemand mag sie noch in die Hand nehmen und lesen. Aber es liegen auch alte Taschenbücher aus den 1950er und 1960er Jahren drin, die ebenso verschmutzt aussehen, bei näherem Hinschauen aber lediglich die „Zeit“ erkennen lassen, die über oder durch sie hinweggegangen ist. Das Papier ist nicht das beste, die Seiten sind gebräunt, und doch haben sie noch einen gewissen Reiz, wie zum Beispiel die rororo-Taschenbücher, die noch einen angeleimten Textilrücken haben.

Eins dieser Bücher zog mich letztlich ganz besonders an. Ich konnte es gar nicht in der Tonne lassen. Ein junges Mädchen mit „Flitzebogen“, das auf einem Ast sitzt, prangt auf dem ganz im Grünton gehaltenen Buchcover. „Wilhelm Speyer“ ist der Autor, „Der Kampf der Tertia“ lautet der Titel. Von beiden hatte ich noch nichts gehört, aber ich lerne gerne dazu. Dass es sich beim Autor um keinen Unbekannten handelt, stellte ich schnell fest. Also wieder ein Vergessener?

Wilhelm Speyer wurde am 21. Februar 1887 in Berlin als Sohn eines Kaufmanns geboren. Vom Gymnasium wechselte er in das Landerziehungsheim in Haubinda, das anders als der Name vermuten lässt, eine reformpädagogische Schule in freier Trägerschaft war – beziehungsweise ist, denn sie existiert als „Hermann-Lietz-Schule“ heute noch. Als Redakteur der Schulzeitschrift sammelte Speyer erste literarische Erfahrungen. Zwar nahm er nach dem Abitur ein Jurastudium auf, schrieb nebenher jedoch weiter. Der Erste Weltkrieg riss ihn aus allem heraus. Danach lebte er als freier Schriftsteller in Berlin. Er veröffentlichte mehrere Romane, von denen der Jugendroman „Der Kampf der Tertia“ ihn bekannt machte. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, musste Speyer fliehen, da er zwar protestantisch getauft, aber von jüdischer Herkunft war. Er ging zunächst nach Österreich, von dort nach Frankreich und kam schließlich 1941 in den USA an. Dort versuchte er sich als Drehbuchautor, konnte aber nicht richtig Fuß fassen, zumal es ihm gesundheitlich nicht gut ging. 1949 kehrte er nach Europa zurück.

Er veröffentlichte noch einige Romane (u. a. „Das Glück der Andernachs“, Zürich 1947) und starb am 1. Dezember 1952 in Riehen bei Basel. In den 1970er Jahren interessierte sich kaum noch jemand für ihn und seine Werke. Also tatsächlich ein Vergessener? Erste Recherchen schienen das zu bestätigen. Aber dann stieß ich auf den Aistehsis-Verlag, der in seiner Archiv-Reihe seit 2014 bereits drei Bücher von Wilhelm Speyer wiederveröffentlicht hat:

* Sommer in Italien, eine Liebesgeschichte. – „Dies weltliche und gesellschaftliche Buch birgt eine erotische Erkenntnistheorie in Märchenform.“ (Franz Hessel)

* Das faule Mädchen. Filmnovellen und weitere Texte aus dem amerikanischen Exil. – Es enthält Speyers Arbeiten für Hollywood aus den 1940er Jahren.

* Charlotte etwas verrückt. Roman. – „Ein Buch wie Champagner: spritzig, heiter, überschäumend“ (Ullstein-Verlagswerbung 1930)

Ich habe den „Kampf der Tertia“ bereits zu lesen begonnen. Meine Empfehlung lautet jetzt schon: Schaut in die Tonne oder den nächsten öffentlichen Bücherschrank, ob ihr es auch findet! Wenn nicht, gibt es ja noch Booklooker.

Wenn ich es durchgelesen habe, will ich mir Charlotte vornehmen. Aber vielleicht schreibe ich dazwischen auch noch etwas für den Blog.

Ihr Horst-Dieter Radke

 

 

 

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