Beates schönstes Buchgeschenk, das sie nie bekam oder Anders hätt‘ ich mir gewünscht

Vermutlich gehörte ich länger als jedes andere Kind zu den „Lesenlernern“. Schreiben, ja das ging. Begeistert malte ich Ms und Ns und Bs und As in meine Hefte, formte Wörter und Sätze (wenn auch selten auf die richtige Weise), aber mir passiv Buchstaben zusammenzupuzzeln, aus diesen Ts und Es und Ks Wörter, Sätze, ganze Geschichten zu entziffern, nein, das gelang lange Zeit schlecht bis gar nicht.

Zu einem guten Teil stand mir sicherlich meine Ungeduld im Wege. Scheiterte ich im ersten Versuch, eine Buchstabenkette zu enträtseln, warf ich das Heft, die „Fibel“, das Buch auf den Boden, stampfte mit dem Fuß auf, verschränkte meine Arme vor der Kinderbrust und schmollte. Was interessierten mich da die Bücher, die unterm Weihnachtsbaum lagen? Ich grollte ihnen in dem Maße, wie meine ältere Schwester sie bejubelte. Ich nahm sie in die Hand, roch an ihnen und legte sie wieder weg.

In einem Jahr legte ich „Das Schlüsselkraut“[1] zurück, meine Schwester streichelte „Ich wollte, daß ich anders wär`“[2] von demselben Geschichtenerzähler. Zugegeben, inzwischen fiel es mir schon ein kleines bisschen leichter zu lesen, aber wir liebten die Vorlesestunden meiner Mutter immer noch sehr, auch wenn sie rarer wurden. An diesem Heiligen Abend begann sie mit dem Buch meiner Schwester, das von dem kleinen Anders handelte. Alle nannten den Jungen nur so, weil er immer wieder sagte, dass er gerne anders wäre, größer und stärker, klüger und mutiger – genau wie ich. Es handelte von dem Jungen, dem dieses verflixte Siebener-Einmaleins noch mehr Probleme machte als mir das Lesen. Als er erfährt, dass er nur dann Hilfe erwarten und größer, stärker und mutiger werden kann, wenn er abends im Bett das Siebener-Einmaleins aufsagt, findet er das – genau wie ich –ziemlich unlogisch: Wie soll er da Hilfe bekommen? Das Siebener-Einmaleins ist doch gerade sein zentrales Problem.

Natürlich kriegt er das nicht hin, aber dann hört er ein Kichern vom Fensterbrett. Auf dem sitzt Federchen, ganz daunenweich, lacht und schrumpft Anders und nimmt ihn mit in die Welt der kleinen Tiere, in der Abenteuer bestehen muss, die alle mit der Zahl Sieben zu tun haben.

Ich liebte dieses Buch meiner Schwester – mehr als meins („Das Schlüsselkraut“), das meine Mutter uns danach vorlas; ich liebte es länger als die anderen Kinderbücher, die mir vorgelesen wurden oder die ich schließlich doch auch selber las.

Ich war schon groß, glaubte längst nicht mehr ans Christkind, den Osterhasen erst recht nicht, aber ich lag oft, auch Jahre später noch, im Bett und hoffte auf ein Federchen, wollte so gerne anders sein, mal stärker, mal mutiger, mal klüger. Dann sagte ich in Gedanken das Siebener-Einmaleins auf, so lange bis ich einschlief. Und manchmal träumte ich dann, etwa dass ich den Felgumschwung schaffte, oder ich begriff den Dreisatz, und am nächsten Tag gelang mir tatsächlich beim Sport der Felgumschwung oder ich konnte ausrechnen, wie viele Vogelhäuschen zwölf Kinder in welcher Zeit bauen können, wenn acht Kinder in drei Stunden vierundzwanzig bauen.

Ich denke, es ist pure Gewohnheit, wenn ich nachts, wenn ich nicht schlafen kann und Gedanken mich umtreiben, das Siebener-Einmaleins aufsage.

Ihre Beate Paul

 

[1] Jetzt findet man das Buch von Paul Biegel im Verlag Urachhaus unter dem Titel „Eine Geschichte für den König“.

[2] Heißt heute „Ich will so gerne anders sein“, im selben Verlag.

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