Besuch bei Harry in Montmartre

Bei unserem letzten Besuch in Paris vor zwei Jahren überredete ich meine Frau, auf das Frühstück im Hotel zu verzichten und es lieber in einem Bistro einzunehmen. Da wäre es besser, zumal in den kleinen Hotels ohnehin nur ein liebloses Standardfrühstück zu bekommen sei. Sie war nicht begeistert, weil das Frühstücksritual bei ihr zum Wachwerden gehört. Wir hatten uns ein kleines Hotel im Norden von Montmartre gesucht, um nicht zu weit ab zu sein von allem und trotzdem ein wenig aus dem Trubel raus. Ein Blick in den wenig ansprechenden Frühstücksraum ließ sie dann zuletzt doch zustimmen und so zogen wir am ersten Morgen los, ein passendes Bistro suchen.

Ich gab die Richtung vor, weil ich für diesen ersten Tag ein Ziel hatte. Auf ihre Fragen, wo ich hinwolle, sagte ich nur, dass ich jemandem einen Besuch abstatten möchte, den sie auch kenne. Das machte sie neugierig, aber ich verriet nicht mehr, weniger um sie neugierig zu machen, als um mir keine zu frühe Abfuhr zu holen. Es galt nun auch möglichst bald ein Bistro zu finden, das das Frühstück im Hotel nicht nur ersetzte, sondern deutlich übertraf. Darin lag überhaupt meine einzige Chance, diesen Besuch durchzuführen. Es war jedoch wie verhext. Während man sonst an jeder Ecke eins sah, war auf der Straße, die ich mir auf der Karte herausgesucht hatte, über lange Strecken nicht eines zu finden. Die Laune meiner Frau sank gegen Null, und war bereits im frostigen Bereich angelangt, als wir an eine Querstraße kamen, auf der, wie ich sehen konnte, sich wieder Bistro an Bistro reihte. Ich atmete auf, steuerte das erstbeste Bistro an, nahm aber dann doch das zweite und landete einen Volltreffer. Das Frühstück war toll, die Laune meiner Frau wieder auf einem Hoch, so dass ich es wagen konnte, mein Ziel zu nennen: den Pariser Nordfriedhof, Cimetière de Montmartre. Das überraschte sie dann doch, machte sie aber noch neugieriger darauf, wen ich da besuchen wollte? Du wirst schon sehen, sagte ich.

Der Eingang befindet sich in der Avenue Rachel, das hatte ich mir im Stadtplan schon angestrichen. Sehr weit waren wir nicht mehr entfernt, so dass ihre Geduld nicht auf allzu lange Probe gestellt wurde. Wir mussten über eine Brücke, um zu diesem Eingang zu kommen. Von oben konnten wir schon auf Gräber sehen. Es sah merkwürdig aus, so, als hätte man da eine kleine Stadt in der Stadt erbaut mit sonderbaren Häuschen.

 

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Es war April. Wir rechneten mit kalten Tagen und hatten uns mit warmer Kleidung eingedeckt. Doch nachdem die Sonne den Morgendunst vertrieben hatte – anfangs regnete es sogar ein wenig – entfaltete sie probeweise ihre Kraft. Wir liefen mit offenen Jacken herum. Und wir waren nicht die einzigen, die das genossen. Manche Bäume standen schon in Blüte, und zahlreiche Blumen öffneten sich zur Sonne hin. Das gab dem Friedhof etwas Lebendiges. Herumstreunende Katzen förderten diesen Eindruck mehr als die paar Menschen, die sich um diese frühe Stunde auf den Cimetière de Montmartre mühten. Gleich hinter dem Eingang fand sich eine große Tafel mit Hinweisen, welches Grab berühmter Persönlichkeiten wo zu finden ist.

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Das Grab von Harry … Verzeihung … Heinrich Heine ist nicht schwer zu finden. Es ist auf der Übersichtstafel vermerkt und schon mit wenig Orientierungsvermögen gut anzusteuern. Allerdings muss man aufpassen, dass man nicht vorüber läuft, denn es liegt in der zweiten Reihe, also nicht direkt am Weg. Noch schwerer ist es, sich nicht von anderen Gräbern ablenken zu lassen. Skurril bis anrührend sind viele ausgestaltet. Wir standen jedenfalls bald vor der Marmorbüste des Dichters, die das Grab – in dem auch seine Frau Mathilde ihre letzte Ruhe fand – hoch überragte. Sinnend schaut er hinab auf das eigene Grab, so als wolle er sagen: Siehst du, da liegst du nun. Direkt aus der Matratzengruft, in der du acht Jahre mehr gelitten als gelebt hattest, ging’s in die richtige Gruft.

 

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Klagen kann er nicht. Das Grab wird sauber gehalten und Blumen werden auf ihm abgelegt, sicher von Verehrerinnen, von denen er auch heute noch genügend hat. Es wird wohl eher selten sein, dass Männer ihm eine Rose auf den weißen Marmor legen.

Ich stand etwas verlegen davor und dachte, warum eigentlich nicht? Schämte mich ein wenig, dass ich nichts dabei hatte, scheute mich aber, einen kleinen Stein zu den anderen zu legen. Es wäre ja einer vom Friedhof gewesen, und nicht mitgebracht. Das wäre nicht besser, als eben noch ein paar Blumen von der Tanke zu holen, bevor man zu seiner Frau oder Geliebten geht.

Die Frage nach der letzten Ruhe hatte ihn schon im Leben bewegt. Ein Gedicht, das er zu diesem Thema geschrieben hat, ist in den Marmor der Grabplatte gemeißelt worden:

Wo wird einst des Wandermüden

Letzte Ruhestätte sein?

Unter Palmen in dem Süden?

Unter Linden an dem Rhein?

 

Werd ich wo in einer Wüste

Eingescharrt von fremder Hand?

Oder ruh ich an der Küste

Eines Meeres in dem Sand.

 

Immerhin mich wird umgeben

Gotteshimmel, dort wie hier,

Und als Todtenlampen schweben

Nachts die Sterne über mir.

 

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Der Ausflug auf den Cimetière de Montmartre dauerte länger als geplant. Es hat sich aber gelohnt, fanden wir beide. Nicht weit weg – die Avenue Rachel nur ganz durchgegangen und dann linker Hand abgebogen – ist das Moulin Rouge zu finden. Gefunden haben wir in den folgenden Tagen auch noch manch anderes. Ich habe das Einhorn gesehen, auf den großartigen Teppichen im Musée national du Moyen Âge – und auf der Champs-Élysées. Da war ich aber wohl der Einzige. Immerhin ist mir das eine Geschichte wert, die allerdings an anderer Stelle erzählt werden wird. Das Wetter blieb gut, erst am Tage der Abfahrt gab es einen Kältesturz, aber das war uns fast schon egal, weil wir mittags wieder im Zug saßen und heimfuhren. Nächstes Mal, wenn ich nach Paris komme, werde ich einen anderen Friedhof und ein anderes Grab besuchen, von einem, der ähnlich wie Harry Heine, als Fremder nach Paris gekommen und unvorhergesehen dort gestorben ist, Anfang der 1970er, als ich gerade in Swinging London weilte.

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Ihr Horst-Dieter Radke

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