Der Naturistenweg in Undeloh

„Aber die Käppi behalte ich auf.“

Das sage ich, weil ich einen Blogbeitrag über den Nacktwanderweg in Undeloh schreiben will.

Soraya: „Du kannst nur über was schreiben, was du selbst erlebt hast.“

„Aber ich habe doch auch einen Roman übers Rotlichtviertel geschrieben, ohne jemals dagewesen zu sein.“

„Das ist was anderes.“

So blieb mir also nichts anderes übrig, als mich nackt, wie mich die Große Göttin geschaffen hat, auf unseren Ostbalkon zu setzen.

„Und?“

„Jo.“

Also, es ist schon eine eigene Erfahrung, auf bloßem Mahagoni zu sitzen. Die Haut fühlt sich tatsächlich wie ein Sinnesorgan an, durch das man mit geschlossenen Augen die Sonne wahrnimmt. Allerdings auch den Wind, der mit kleinen Schauern über den Buckel zieht.

„Und?“

„Jo.“

Ja, man fühlt geradezu die beseelte Natur. Selbst das Rauschen der Pappeln geht einem nicht mehr am Hintern vorbei. Schelling spricht mir aus tiefster Seele: So kommt es zur „Wiederherstellung der verlorenen Identität in einer höheren Potenz“. Ich fühle es ganz genau, als ich ein paar Schritte gehe.

„Und?“

„Jo.“

„Sag ich doch.“

Nun ein paar Fakten. Undeloh liegt in der Lüneburger Heide, in der Nähe vom legendären Güsingen, dem Ort, der schon in der Weimarer Republik ein berühmter Naturistenort war. Nachdem 1919 dort ein vegetarisches Ferienheim gegründet worden war, schaffte der Reformpädagoge Walter Fränzel 1927 daraus das Lichtschulheim Lüneburger Land, wo Schüler und Schülerinnen in koedukativer Nacktheit erzogen wurden. Heute ist es ein Campingplatz, textilfrei natürlich, und drumherum ist der Süsing, ein Wald, in dem man stundenlang wandern kann, ohne einer einzigen zugeknöpften Seele zu begegnen. Der Zeitungsartikel darüber wäre mir gar nicht aufgefallen, wenn uns unser Weg nach Mecklenburg nicht immer durch dieses Undeloh geführt hätte.

Die Freikörperkultur als Teil der Lebensreformbewegung geht unter anderem auf Pfarrer Kneipp und Aufklärer Rousseau zurück. Vor fast genau hundert Jahren wurde der nackte Körper als natürlichster Ausdruck der Körperlichkeit wiederentdeckt, dabei wurde dem unbekleideten Baden in Licht, Luft und Sonne eine gesundheitsfördernde Wirkung zugeschrieben. Man strebte rauch- und alkoholfrei die Erneuerung der gesamten Lebensführung an.

Die Bezeichnung Lichtfreunde geht historisch gesehen auf Anhänger Hegels zurück, die an der Göttlichkeit Christi zweifelten. Aufgrund des Leib-Seele-Dualismus des Christentums galt Nacktheit als Sünde. Die bildende Kunst und die Naturistenbewegung bejahten gemeinsam im Gegensatz zur christlichen Prüderie die Ästhetik des nackten menschlichen Körpers.

Zurück zum Naturistenweg Undeloh, einem von zwei offiziell anerkannten Wegen in Deutschland, zehn Kilometer lang, der zum unbekleideten Wandern oder Fahrradfahren einlädt. Anfängern wird empfohlen, sich einer Gruppe anzuschließen. Treffpunkt ist der Parkplatz zwischen Wesel und Wehlen, wo Wanderer und Fahrradfahrer die Hüllen fallen lassen und dem Rundweg nackt folgen dürfen. Ende der Fakten.

Zwischendurch fragt mich Soraya, wieso ich in Gottes Namen ausgerechnet über den Nacktwanderweg schreiben will. Fragen kann sie. Okay, mein Thema ist ja das Leben im Großen und Kleinen, und dafür bin ich auf der Suche nach immer neuen Geschichten und Allegorien, die die ganze Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz abbilden. Und ich finde, wenn man auf der Lüneburger Heide auf- und untergeht, dann stolpert man nur so über Geschichten und Allegorien.

Erstens zum Beispiel der ganze Sand, der überall herumfliegt und in unseren Händen wie die Zeit verrinnt. Zweitens die Heide, die im Frühjahr blüht und von der Gehörnten Heidschnucke abgefressen wird, oder die ständig nachwachsenden Grassoden, die heutzutage von Schaufelbaggern abgeplaggt werden. Man lässt die Landschaft nicht in Ruh und zieht ihr regelmäßig die Haut ab. Mit dieser Allegorie können wir doch was anfangen, oder?

Dazu passen die Sagen vom Werwolf aus dieser Gegend, wo sich Bauern in reißende Ungeheuer verwandeln, sobald sie einen Leder- oder Fellgürtel umbinden. Der Gürtel steht meines Erachtens für die Koppel der Soldatenuniform.

Oder denk viertens an die Villa in Lüneburg, wo Teile der Deutschen Wehrmacht kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs vor Feldmarschall Montgomery bedingungslos kapitulierten. Ja, in dieser Landschaft fand der deutsche Faschismus sein Ende, allegorischer geht es doch wirklich nicht.

Soraya: „Mir fällt dazu unser Musiklehrer in der Mittelstufe ein, der beim Lied ‚Auf der Lüneburger Heide, in dem wunderschönen Land‘ seine linke Hand immer auf den Klavierdeckel haute. Der war Pianist, dem sie im Krieg die Hand zerschossen hatten.“

Dann ich: „Wow, ich fühle mich tatsächlich schon viel freier, so nur mit Haut und Schauer den Elementen von Natur und Geschichte ausgesetzt. Alle Geheimnisse beginnen an frischer Luft zu schlackern und zu schaukeln, man spürt alle Schattierungen von Wind und Sonne und ist wieder Kind. Das ist Freiheit pur.“

Soraya natürlich wieder: „Aber pass auf, dass deine Geheimnisse keinen Sonnenbrand kriegen.“

Nackt steht auch für Verletzlichkeit, notiere ich mir.

„Muss man eigentlich barfuß nacktwandern?“, fragte ein guter Freund beim Lektorat dieses Textes.

„Das ertrage ich nicht auch noch pur und ungeschützt, die ganze im Boden gespeicherte Erd- und Menschheitsgeschichte. Nee!“

Schlussallegorie: Die Haut kräuselt sich bei Wind und Wetter wie der Sand in der Lüneburger Heide. „Ich bin soweit, Soraya, wir können den Blogbeitrag schreiben. Dann runter mit den Klamotten, keine Kompromisse!“

„Jo“, sagt Soraya, „aber die allerschönste Allegorie bist du: nackt mit Käppi und Läppi auf dem Balkon.“

Ihr Jürgen Block

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