Die (deutsche) Kurzgeschichte – I. Wie das Dilemma begann

Kurzgeschichten wurden schon seit jeher geschrieben, auch in Deutschland. Man nannte sie nur anders, etwa Anekdote, Kalendergeschichte, wenn sie etwas länger war – Novellette, gerne auch Skizze. Den amerikanischen Begriff „Short Story“ direkt zu übersetzen, hat man schon früh versucht, konnte sich damit aber zunächst nicht durchsetzen. Immerhin ist dieser Begriff auch etwas unscharf, denn im englischsprachigen Raum versteht man darunter alles, von der Kürzestgeschichte bis hin zur Novelle. So konnte es auch passieren, dass Alice Munro bei uns als Autorin von Kurzgeschichten durchging, als sie 2013 den Nobelpreis für Literatur gewann. Tatsächlich sind die meisten ihrer Texte längere Erzählungen. Der deutsche Begriff „Kurzgeschichte“ passt da eigentlich nicht.

Allerdings ist es mit diesem Begriff auch so eine Sache. Jeder versteht etwas anderes darunter. Weit verbreitet ist die Meinung, dass es die Deutsche Kurzgeschichte nur zwischen 1945 und 1960 gegeben hat. Nur das, was damals geschrieben wurde kann also eine solche bezeichnet werden. Danach ging alles den Bach runter. Merkwürdigerweise soll sich aber jede Kurzgeschichte, die neu geschrieben wird, an den Regeln dieser „alten“ Geschichten orientieren. Diese Regeln (etwa die, dass die Geschichte keine oder höchsten eine kurze Einleitung hat, dass chronologisch und im Präteritum erzählt wird, die erzählte Zeit nur Minuten oder allenfalls Stunden ausmachen soll, der Schluss offen sein muss) haben jedoch nicht die Schriftsteller dieser Zeit erdacht, sondern sind von Literaturwissenschaftlern sozusagen aus den Geschichten extrahiert worden. Aber ganz unschuldig sind die Schriftsteller jener Zeit natürlich auch nicht.

1949 veröffentlichte Wolfgang Weyrauch (1904–1980) die Anthologie Tausend Gramm, mit dreißig Kurzgeschichten deutscher Autoren (unter ihnen: Weyrauch selbst, Alfred Andersch, Walter Kolbenhof, Luise Rinser, Günter Weisenborn, Ernst Schnabel). Vorangestellt waren „Fünf Modellgeschichten“ von Friedrich Hebbel, Kleist, Maupassant, Tschechow und Johann Peter Hebel. Das war sozusagen das Kontrastprogramm. Kurze Geschichten älterer Bauart wurden nicht verschwiegen, aber als für die neue Zeit nicht mehr brauchbar eingeschätzt.

„Geschichten wie das hier publizierte Modell ‚Die Kuh‘ von Hebbel oder wie das häufig gedruckte außerordentliche ‚Trockendock‘ von Stefan Andres verursachen, durch ihre Mathematik, durch ihre Kausalität, durch ihre Unausweichlichkeit, durch ihre Sperberhaftigkeit – sie kreisen und kreisen, immer enger und schneller fliegend, und dann stürzen sie sich auf die Beute, das Ergebnis, den Akzent, das Fragezeichen, herab – solche Geschichten verursachen, auch durch ihr ‚wer A sagt, muß auch B sagen‘, eine echte Affinität mit der Wirklichkeit, mit der Moral und Unmoral ihres Gefälles.“

(aus: Tausend Gramm)

Das ist nicht mehr zeitgemäß, meint Weyrauch. Er wähnt einen „Kahlschlag“ in der deutschen Literatur und mit diesem Kahlschlag müssen sich die neuen Schriftsteller auseinandersetzen – was sie seiner Meinung nach auch taten. Zumindest einige.

„Es gibt vier Kategorien von Schriftstellern. Die einen schreiben das, was nicht sein sollte. Die andern schreiben das, was nicht ist. Die dritten schreiben das, was ist. Die vierten schreiben das, was sein sollte. Die Schriftsteller des Kahlschlags gehören zur dritten Kategorie.“

Dieser Begriff – Kahlschlagliteratur – setzte sich durch und ist auch heute noch gebräuchlich für diese Zeit. Die Anthologie erschien, wie schon geschrieben, 1949 und steht am Anfang dieser ersten Blüte der deutschen Kurzgeschichte. Vier Jahre später entsteht ein Essay von Heinrich Böll (1917–1985): Gibt es die Deutsche Story? Heinrich Böll ist ein Schriftsteller, der die Kurzgeschichte in Deutschland ganz wesentlich geprägt hat. Sein Blick ist dabei auf die amerikanische Short Story gerichtet.

„Die Schriftsteller aber, die Geschichten weniger erzählten, aber glaubten, sie schreiben zu können, waren leidenschaftlich bemüht, eine Form der Erzählung zu finden, die unserer Zeit gemäß ist, und sie haben sie – drüben in Amerika – gefunden die short Story, die kurze Geschichte, die die Novelle abzulösen scheint.“

Er differenziert aber wenige Sätze später, indem er sagt, dass man den Begriff nicht einfach so übersetzen kann.

„… zwar ist die Story eine mehr oder weniger kurze Geschichte, aber was sie charakterisiert, ist nicht durch ein Merkmal der Quantität zu kennzeichnen.“

Auch Böll nimmt dann Hebbel, Kleist und Stifter her, um zu zeigen, was die neue deutsche Kurzgeschichte nicht sein soll. Er liefert damit schon die Vorgabe für die künftigen Lehrbücher und die Fixierung der „Gelehrten“ bis heute:

„Die Story aber ist ausschließlich auf das unmittelbare Begreifen angewiesen, sie leistet sich keine Exposition mehr, keine Symbole, keine Höhepunkte, keine Schlußfolgerung. Mit einen Griff muß es dem Autor gelingen, die Anteilnahme des Lesers zu gewinnen, er muß ihn sofort fesseln; wenn ihm das nicht gelingt – wird seine Geschichte eine schlechte Geschichte sein.“

(aus: Gibt es die Deutsche Story?)

Es ist auch heute noch interessant, die Ausführung von Weyrauch und Böll zu lesen und es spricht nichts dagegen, sich an diese damals geforderten Regeln für eine Kurzgeschichte zu halten. Allein die Fixierung, das Beharren darauf, dass nur eine deutsche Kurzgeschichte ist, was sich diesen Regeln unterordnet, das ist eine unangemessene Forderung. Die Zeit ist weitergegangen. Es wurden weiterhin deutsche Kurzgeschichten geschrieben, die sich nicht sklavisch an diese Regeln hielten, schon in jener Kahlschlagszeit nicht (ich verweise exemplarisch an dieser Stelle auf die Kurzgeschichten von Ilse Aichinger). Die Grenzen sind fließend geworden zur längeren Erzählung und Novelle. Im nächsten Beitrag zur Kurzgeschichte werde ich auf diese Entwicklung eingehen.

Bis dahin wünsche ich Ihnen vergnügliche Lektüre, vielleicht mit Kurzgeschichten.

Ihr

Horst-Dieter Radke

Zitate aus:
Wolfgang Weyrauch (Hg.): Tausend Gramm, Erstveröffentlichung Rowohlt, 1949, Taschenbuchausgabe Mai 1989
Heinrich Böll: Erzählungen, Kiepenheuer & Witsch, 2006

Bildquelle:
Bundesarchiv, B 145 Bild-F062164-0004 / Hoffmann, Harald / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

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