Die (deutsche) Kurzgeschichte VI. – Wie schreibt man eine Kurzgeschichte?

Anleitungen, wie man eine Kurzgeschichte schreibt, gibt es viele. Ein Großteil beruft sich auf die Merkmale, die für die deutsche Kurzgeschichte der Fünfziger Jahre festgelegt wurden. Andere fassen es weiter. Das ist alles nicht verkehrt. Gerade wenn man anfängt zu schreiben, sind solche Anleitungen meist hilfreich. Ich will keine weitere Schablone dieser Art hinzufügen, sondern mich auf die beiden Merkmale konzentrieren, die im Wort selbst schon enthalten sind: »kurz« und »Geschichte«. Außerdem ein paar Anregungen spezifizieren, um einen einmal geschriebenen Text »besser« zu machen.

Wie kurz oder lang eine Kurzgeschichte sein darf, lässt sich nicht exakt festmachen. Ganz grob kann man sagen, sie sollte mindestens so lang sein, dass sich ein bestimmtes Ereignis erzählen lässt. Wer das in einem Satz schafft, muss sich nicht zu einer längeren Abhandlung nötigen lassen. Ich halte hier der Einfachheit halber mal eine Seite als Untergrenze fest. (Mit Seite ist immer die Normseite gemeint). Bei dreißig Seiten könnte die Kurzgeschichte ihr Ende erreicht haben. Jenseits davon entwickelt sich das, was man erzählen möchte, leicht zur Erzählung oder Novelle weiter. Diese Einteilung ist willkürlich und wird von mir nicht als fixe Regel behauptet. Sie dient lediglich dazu, einen Rahmen abzustecken, in dem sich die Kurzgeschichte frei entwickeln kann.

Schreiben kann man viel, auch solche Texte, die keine Handlung enthalten. Das sind dann in der Regel keine Geschichten, sondern Betrachtungen, Überlegungen, vielleicht Belehrungen oder einfach Nonsens. Das hat alles seine Berechtigung – von »Geschichten« kann man meines Erachtens dabei nicht sprechen. Es muss etwas passieren oder etwas passiert sein, um eine Geschichte erzählen zu können. Der Leser muss in dem kurzen Text etwas erfahren, was ihn vom ersten Satz bis zum Ende durch das, was erzählt wird, fesselt. Reine Assoziationen, Gedanken eines Protagonisten, der im Bett liegt und sich nicht bewegt, die Beschreibung eines Baumes oder einer Blume ohne Zusammenhang mit einem Ereignis sind keine Geschichten. Man mag sie zur erzählenden Prosa rechnen – als Kurzgeschichte taugen sie nicht. Das ist also das Erste, was man sich überlegen sollte, wenn man eine Kurzgeschichte schreiben will: Was passiert darin? Ist das geklärt, ist schon ein gutes Stück Arbeit geschafft, auch wenn man noch kein Wort geschrieben hat.

Manch einer bemüht den sogenannten »Spannungsbogen« als Forderung für eine Kurzgeschichte oder fordert das, was im Englischen als »Suspense« bezeichnet wird: Dass sich die Spannung langsam aufbaut, um nach dem Höhepunkt wieder abzuklingen. Bei einem Roman, Drama oder Film unter Umständen sogar mehrfach. Ich meine, das ist für die Kurzgeschichte ein eher zu vernachlässigender Effekt. Einmal, weil sie zu kurz ist, um groß mit diesem dramatischen Effekt aufzuwarten und zum anderen, weil es für eine Kurzgeschichte auch legitim ist, auf dem Höhepunkt aufzuhören. Von einem Bogen kann dann nicht die Rede sein. Besser ist es, den geschriebenen Text daraufhin abzuprüfen, ob überhaupt Spannung erzeugt wird, und dass der Höhepunkt nicht gleich am Anfang steht. Es kann sinnvoll sein, die Handlung so umzugestalten, dass ein Ereignis oder ein Geschehen zum Ende hin verlagert wird, oder auch etwa am Ende etwas wegzulassen. Nicht alles muss erläutert werden in einer Kurzgeschichte, oder wenn doch, dann möglichst kurz mit einem oder wenigen Sätzen.

Damit ist auch schon etwas Wichtiges angesprochen: Der geschriebene Text sollte überarbeitet werden, am besten mit ein wenig Distanz. Denken Sie sich zu den folgenden Schritten immer dazu: Mindestens einmal drüber schlafen. Das gilt auch schon für die Erstfassung. Wenigstens eine Nacht vergehen lassen, bevor mit der Überarbeitung begonnen wird.

Schritt 1: Streichen! Wie schon gesagt – »kurz« ist die Devise. Den Text auf Redundanzen prüfen. Wiederholungen müssen begründbar sein, sonst kommen sie raus, auch wenn es weh tut. Nichts Überflüssiges sollte enthalten sein.

Schritt 2: Die Suche nach dem richtigen Wort! Wir neigen grundsätzlich zur Bequemlichkeit. Das gilt auch bei der Wortwahl. Dabei ist unser Wortschatz vielfältig. Der Blick in das Synonymlexikon oder in den Dornseiff sollte zur Gewohnheit werden.

Schritt 3: Ausmisten! Nach Wortwiederholungen fahnden, die noch nicht bei Schritt 1 gefunden wurden oder gerade durch Schritt 1 auffällig wurden. Lange Sätze, die nicht von vornherein als solche angelegt (anders gesagt: »komponiert«) wurden, aufteilen. Und selbst solche geplanten langen Sätze noch einmal auf Tauglichkeit prüfen. Sind sie wirklich nötig? Im Zweifel immer auseinandernehmen.

Schritt 4: Laut lesen! Dabei auf die »Musik im Text« achten. Ist die Sprache angemessen? Funktioniert jede Formulierung so wie gedacht? Geschichten werden nicht nur gelesen sondern auch vorgelesen. Dabei zeigt sich nicht selten, was eine Geschichte taugt.

Schritt 5: Rächtschraipung! Man kann bei den vorangegangenen Schritten schon Rechtschreibfehler beseitigen, sollte aber noch nicht penibel danach suchen. Das lenkt von den anderen Problemen ab. Zum Schluss aber darf dieser Schritt nicht ausgelassen werden. Wenn man kein Rechtschreibfuchs ist, niemanden zur Hand hat, der diese Überprüfung durchführen kann, sollte man wenigstens die Rechtschreibprüfung der Schreibsoftware drüber laufen lassen und die angemerkten Wörter prüfen und gegebenenfalls korrigieren.

Eine Kurzgeschichte, die diese fünf Überarbeitungsschritte durchlaufen hat, hat das Zeug, für eine Veröffentlichung vorgelegt oder bei einem Wettbewerb eingereicht zu werden.

Nun bin ich mit meiner Artikelreihe über die (deutsche) Kurzgeschichte am Ende angekommen. Für Sie ist damit hoffentlich noch nicht Schluss. Ich bin sicher, dass Kurzgeschichten noch lange gelesen werden, und damit das möglich ist, sollten Autoren nicht aufhören, Kurzgeschichten zu schreiben.

Ihr

Horst-Dieter Radke

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