Wie ich einmal fast Hebräisch lernte

Als ich vor über zehn Jahren für eine kleine Berliner Stiftung arbeitete, erhielt ich einmal den Anruf eines Mannes, der mich auf Englisch fragte, ob wir hebräisch miteinander sprechen könnten. Das Fragezeichen am Ende meiner abschlägigen Antwort spüre ich heute noch.

Die Erklärung bekam ich einige Zeit später, als ein Mann – nennen wir ihn J. – in mein Leben trat. In Tel Aviv geboren hatte er bis zu seinem 15. Lebensjahr in Israel gelebt, wo Dorrit ein sehr gebräuchlicher Name sei, wie er mir erzählte. Der Anrufer musste meinen Namen auf der Webseite der Stiftung gelesen und geglaubt haben, dass ich aus Israel stamme. Irgendwie passte das – ich habe als Jugendliche damit gehadert, dass mein Name so überhaupt keine Weichheit zulässt, mit seinem kurzen o und der ebenfalls kurzen, spitzen Endsilbe. Es passte zu meinem Bild von Israel, dass dieser harte Name dort sehr gebräuchlich ist. Ich kannte das Land aus den Nachrichten und aus Büchern von Batya Gur und Zeruya Shalev. Bei beiden meinte ich, in ihren Büchern die Härte und Anspannung eines Landes zu spüren, das immer in Gefahr war. Da war kein Platz für oberflächliche Zartheit, da ging es schnörkellos in die Tiefe, dorthin, wo es wehtut. Unterstützt wurde dieses Bild von „Life According to Agfa“, einem israelischen Film, der fast heiter daherkommt und nach dessen Ende ich minutenlang sprachlos-schockiert vor dem Bildschirm saß. Mehr verrate ich aus Spoilergründen nicht, doch der Film unterstrich alles, was ich bis dato über Israel gedacht hatte.

J. meinte, mit meinem Namen solle ich tatsächlich Hebräisch lernen, und ich war einen kurzen Moment versucht, mich zu einem Sprachkurs anzumelden. Dazu kam es nicht – vermutlich ahnte ich schon, dass J. nicht lange in meinem Leben bleiben würde. In jenem kurzen Moment aber sah ich uns gemeinsam auf Tel Avivs Partymeile ein schönes Paar abgeben und unter sengender Sonne Jerusalem entdecken. Ich sah mich in tiefer Ehrfurcht vor Geschichte und Gegenwart der heiligen Stadt an der Klagemauer entlang wandeln und sprachlos und fasziniert die goldene Kuppel des Felsendoms anstarren. Aber auch angespannt, es schien mir unvorstellbar, den Konflikten der Stadt auszuweichen. Vermutlich machte das einen Teil des Reizes aus.

Einmal fragte ich J. nach seiner Haltung zur aktuellen Politik in Nahost und er winkte nur ab: They all are completely crazy. Mehr war zu diesem Thema aus ihm nicht herauszuholen. Er hatte Israel mit 15 verlassen und den Rest seines Lebens hauptsächlich in England verbracht. Mit einem deutschen Pass übrigens. Seine Mutter war nämlich Deutsche und vor den Nazis geflohen und hatte ihm irgendwann diesen Pass besorgt. Was mich zu einer anderen Frage führte, die ich ihm stellen musste: Du hast kein Problem damit, in dem Land zu leben, das Deine Mutter zur Flucht gezwungen hat? Hatte er nicht, schließlich hätten ich und meine Altersgenossen damit nichts zu tun. Ich hätte ihn gern mehr gefragt, über Israel, Palästina, das Verhältnis zu Deutschland, doch eine Scheu ließ mich auf das warten, was er freiwillig preisgab. Einmal erzählte er ungefragt, dass er der hoffnungsvollsten und versöhnlichsten Generation Israels angehörte. 1959 geboren wuchs er in einer Atmosphäre des Friedens auf. Nach Krieg und Holocaust hatten seine Eltern bei seiner Geburt Hoffnung auf ein besseres Leben in einem eigenen Staat. Schon eine Generation später wurden die Angriffe von außen so massiv, dass Verbissenheit und Aggression die Hoffnung verdrängten. So beschrieb es J., der kurze Zeit später aus meinem Leben verschwand. Mein Wunsch, nach Israel zu reisen, rückte in den Hintergrund. Zwar träume ich noch manchmal von Tel Aviv oder Jerusalem, aber mehr so wie über viele Orte der Welt: Ich könnte mal… Doch gerade jetzt, in Coronazeiten, halte ich inne und gestehe mir, dass manche Reisen über meine Verhältnisse gehen, aus Umweltgründen, aus Gerechtigkeitsgründen. Vielleicht muss ich nicht alle Orte der Welt besuchen, nur weil ich es könnte.

Stattdessen werde ich in diesem Sommer „Exodus“ lesen, das ich kürzlich in meinem SuB entdeckte. Leicht wehmütig werde ich dabei an J. und an eine nie stattgefundene Reise denken.

Ihre Dorrit Bartel

Teilen: