Die Dichterin, die im „Vielleicht“ lebte

Emmy Hennings, geboren 1885 in Flensburg, verließ die Heimat an der Förde bereits mit 18 Jahren, zog mit ihrem ersten Mann und einer Wanderbühne durch das Land. Die Ehe hielt kaum ein Jahr, doch Emmy blieb unterwegs, als Schauspielerin, als Vortragskünstlerin, Kabarettistin und bald auch als Schriftstellerin. Mit ihrem zweiten Mann – Hugo Ball – ging sie nach Zürich, erfand dort mit ihm und einigen anderen den Dadaismus und landete schließlich im Tessin, wo sie 1948 starb.

Im Laufe der Jahre habe ich mir die Gedichte von Emmy Hennings zusammengesucht – über das Internet, aus diversen Zeitungen, Anthologien und Broschüren. So kam eine gute Sammlung zusammen, ich hatte aber immer das Gefühl, dass es da noch mehr geben müsste. Zu finden waren eigene lyrische Veröffentlichungen der Dichterin jedoch kaum 1). Nun liegt als dritter Band der kommentierten Studienausgabe ein Band mit Gedichten vor. 698 Seiten stark, davon 386 den Textteil umfassend, der weitere Teil ist Kommentar. Die zu Lebzeiten von Emmy veröffentlichten Gedichte reichen bis zur Seite 176, der Rest ist bislang unveröffentlicht. Die von mir gesammelten sind davon nur ein kleiner Teil. Wo waren sie all die Jahre, in denen ich sie gesucht habe? Egal, jetzt sind sie da, und ich kann sie lesen, mich mit einzelnen Verszeilen auseinandersetzen und viele wiederentdecken, die mir in all den Jahren lieb und vertraut geworden sind.

»Jetzt muß ich aus der großen Kugel fallen« etwa (aus: Ätherstrophen), eine Zeile, die mir immer einfiel, wenn ich in eine Situation kam, in der ich lieber nicht gewesen wäre. Emmy Hennings hat das so schön in einen Satz gefasst, wie mir das nie gelungen wäre. »Ich lebe im ›Vielleicht‹ / bin eine stumme Frage« (Ich lebe im Vielleicht) kommt mir immer in den Sinn, wenn ich nicht recht weiterweiß. »Hochaufgetürmte Tage stürzen ein« (Versinken), wenn wieder mal was passiert ist in der Welt, das ich nicht recht begreifen kann. »Ich bin so vielfach in den Nächten« (Traum) kommt mir nicht nur dann in den Sinn, wenn ich morgens erwache und bedauernd fühle, etwas entkommen (entronnen?) zu sein, das so viel größer ist als meine kleine Welt.

Ich könnte so weiter machen, endlos Zeilen, Verse, fast ganze Gedichte aufsagen, die mir über die Jahre etwas bedeutet haben. Die Dichterin hat etwas in wenige Worte gefasst, das Lebensgefühle unterschiedlicher Art ausdrückt – und in mir auslöst. Es gibt auch Gedichte von ihr, mit denen ich nichts anfangen kann. Manche Mariengedichte beispielsweise oder solche, die einer Person gewidmet sind und vermutlich nur dieser verständlich waren. Das ficht mich aber nicht an. Ich liebe es, in diesem Buch durch all ihre Gedichte blättern zu können, Bekanntes wiederzuentdecken, Formulierungen zu finden, die sie wiederholt genutzt hat und die hier wie dort gut passen. Emmy Hennings wurde als Dichterin verkannt. Zu Lebzeiten schon, vermutlich auch jetzt noch. Aber es gibt nun endlich die Gelegenheit, sie zu entdecken. Hoffentlich nutzen es viele. Nicht nur die Strophe auf dem Umschlag lohnt es:

Ich bin gegangen nach allen Weiten

Und jeder Weg war weiss verschneit

Es wurden Wüsten alle Weiten,

Und Wunder jede Einsamkeit

Vor ein paar Jahren habe ich ihr Grab im Tessin besucht, da gab es noch nichts neues von ihr zu lesen. In zwischen sind neben dem Gedichtband zwei Prosabände bei Wallstein herausgekommen. Sie wird sich bestimmt vor Freude darüber im Grab kugeln.

Ihr

Horst-Dieter Radke


Emmy Hennings

Gedichte

Wallstein Verlag, Göttingen 2020

ISBN 978-3-8353-3503-5


Die letzte Freude, Leipzig 1913

https://archive.org/details/dieletztefreude00ball/page/14/mode/2up

Helle Nacht, Berlin 1922

https://digital.blb-karlsruhe.de/blbihd/content/titleinfo/5021936


 

Teilen: