Doppelrezension: Sheridan Le Fanu – Das Zimmer im fliegenden Drachen

Horst-Dieter:

Ein junger Engländer bereist nach dem ersten Sturz Napoleons im Jahr 1814 Europa. In Frankreich trifft er auf eine offensichtlich mit einem zu alten Mann verheiratete Gräfin, in die er sich sofort verliebt. Außerdem begegnet ihm der Marquis d’Harmonville, der aber als solcher nicht erkannt werden will und sich ihm als Freund anbiedert. Die Beziehung wird immer enger. Auch die Kontakte zur jungen Gräfin intensivieren sich und führen dazu, dass sie ihn bittet, ihr bei der Flucht zu helfen. Die endet allerdings in einer Katastrophe und beinahe in einem äußerst unrühmlichen Ende. Eine Droge, die die Körperfunktionen fast komplett ausschaltet, das Bewusstsein aber aufrechterhält, bringt den jungen Engländer in eine fatale Lage.

Der irische Schriftsteller Joseph Sheridan Le Fanu (1814–1873) gilt als Meister der viktorianischen Schauerliteratur. Insbesondere durch seine Erzählung Carmilla, in der ein lesbischer Vampir die Hauptrolle spielt, ist er unvergessen. In diesem Roman spielen weder Vampire noch Geister oder Gespenster eine Rolle. Trotzdem liegt ein latentes Grauen über der Erzählung. Die Leser spüren das Unheil lange, bevor der Protagonist etwas davon mitbekommt. Er ist fremdgesteuert, ohne dies zu merken. Die absolute Hilflosigkeit in der Situation, in der sich das Opfer schließlich befindet, ist spürbar und nachvollziehbar. Allerdings ist der heutige Leser anderes gewöhnt, sodass ihm diese Geschichte wohl keine schlaflosen Nächte bereiten wird. Das Zimmer im fliegenden Drachen ist sicherlich nicht Le Fanus bester und bedeutendster Roman, aber angesichts der Tatsache, dass es im deutschsprachigen Buchmarkt kaum etwas von ihm gibt, ist diese Veröffentlichung des Kleinstverlages Lindenstruth eine gute Sache und lesenswert, insbesondere an zwei, drei düsteren Novemberabenden, ist der Roman allemal. Wer jedoch richtig etwas zum Gruseln von Le Fanu haben möchte, besorge sich antiquarisch die Novellensammlung Grüner Tee, die 1968 bei Diogenes und 1976 als Ullstein-Taschenbuch erschienen ist.

Joan:

Herbstzeit ist Grusellesezeit – zumindest für mich. Wenn es draußen dunkel ist, vielleicht sogar noch regnet und stürmt, dann gibt es nichts Besseres, als mit einer schönen dampfenden Tasse Kakao im Bett zu liegen und einen viktorianischen Schauerroman zu genießen. Richtigen Horror oder Thriller mag ich nicht, ich will mir beim Lesen nicht besorgt versichern müssen, dass die Wahrscheinlichkeit, einem psychopathischen Serienkiller zum Opfer zu fallen, doch eher gering ist, und schon gar nicht möchte ich mir darüber Gedanken machen, dass 95 % aller verschwundenen Kinder wieder wohlbehalten auftauchen. Ich möchte eine schöne Zeit haben, und ich möchte mich ein bisschen gruseln, nicht mehr und nicht weniger. Poe schätze ich deshalb sehr, doch Sheridan le Fanu, den ich bis zu Horst-Dieters Empfehlung nicht kannte, eignet sich zu diesem Zweck fast noch besser. Das Zimmer im fliegenden Drachen ist einfach das perfekte Buch für einen trüben, verregneten Lesetag.

Die Geschichte dreht sich einerseits um den jungen Mr. Beckett, der einer ebenso schönen wie undurchsichtigen Gräfin verfällt, und andererseits um das titelgebende Zimmer im fliegenden Drachen – denn aus diesem verschwinden immer wieder Gäste, scheinbar spur- und grundlos.

Le Fanu würzt diesen kleinen Roman vortrefflich mit den Elementen des Genres, da gibt es Orakel, Friedhöfe und wahnsinnige Offiziere; russische Edelleute, französische Geheimagenten, schöne Frauen, Diamanten, Morde im geschlossenen Zimmer, grauenhafte Gifte, vertauschte Leichen und und und – es ist von allem da, und von allem gibt es reichlich. Dass dabei der eine oder andere Handlungsstrang auf der Strecke bleibt und die Logik nicht immer über den Spannungseffekt triumphiert, was soll’s? Der Unterhaltung tut es nur wenig Abbruch, und ich persönlich jedenfalls war von dem Roman so begeistert, dass ich mir schon weitere Bücher des Autors bestellt habe. Der Herbst ist lang! Ich freu mich darauf.

Gemeinsame Grüße

Ihre Joan Weng und Ihr Horst-Dieter Radke

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