Dorrit liest: Maaza Mengiste – Unter den Augen des Löwen

Hailu ist Arzt in einem Krankenhaus in Addis Abeba. Er hat zwei Söhne und eine Enkeltochter, seine Frau liegt im Sterben. Doch nicht nur der Tod der Mutter beschäftigt die Familie, denn 1974 herrscht in den äthiopischen Dörfern eine Hungersnot, unter der vor allem Kinder leiden. Die Studenten in der Hauptstadt, unter ihnen Hailus Sohn Dawit, sind entschlossen, den Kaiser zu stürzen und die Verhältnisse zu ändern. Haile Selassie ist ein guter Herrscher einer jahrhundertealten Dynastie und hat Äthiopien modernisiert, sagt Hailu. Doch seine Zeit ist vorbei, sagt Dawit. Als sich das Militär ebenfalls gegen den Kaiser stellt und ihn zum Rücktritt zwingt, scheinen die Studenten am Ziel. Doch der Derg, der militärische Verwaltungsrat, denkt gar nicht daran, die Macht an eine Zivilregierung abzugeben, sondern regiert selbst mit Willkür, Gewalt und sozialistischen Parolen. Denunziation und Angst herrschen in den nächsten Jahren in Äthiopien. Freundschaften zerbrechen und auch die Brüder streiten darüber, was unter den neuen Bedingungen nötig und möglich ist. Wie viel Widerstand kann ein Einzelner leisten? Wie viel Widerstand schadet der Familie? Ringsherum verschwinden Menschen und kehren nie zurück. Auch Hailu gerät ins Visier der neuen Machthaber.

Maaza Mengiste, geboren 1971 in Addis Abeba, ist selbst mit ihren Eltern als Kind vor dem Roten Terror des Derg in die USA geflohen. Sie widmet ihr Buch Unter den Augen des Löwen denen, die starben, weil sie etwas verändern wollten. Mit poetischer Sprache gelingt es ihr, jene Zeit schmerzhaft fühlbar zu machen und einigen der Toten Leben einzuhauchen. Sensibel und genau schreibt sie über die veränderten Beziehungen innerhalb der Familie und denen zu Freunden und Nachbarn. Es gelingt ihr, die Ohnmacht der Menschen spürbar zu machen, die in einem Land der Willkür leben. Wo ein falsches Wort reicht, um ins Gefängnis geworfen zu werden. Und wo es keine Chance auf einen Anwalt oder einen fairen Prozess gibt, wie Hailu am eigenen Leib erfährt.

Manchmal ist es ein trauriges, schmerzhaftes Buch. Doch es ist auch ein schönes, poetisches Buch, das Maaza Mengiste mit viel Liebe zu ihren Figuren geschrieben hat. Und mit einem versöhnlichen Ende – soweit das unter den gegebenen Umständen möglich ist.

Ihre Dorrit Bartel

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