Jürgen kocht mit den Protagonisten: Von der Herzklappe, der Angststörung und dem Wolf

Ich bin der Wolf und esse kein Fleisch. Darum saß ich hier in der Klinik in der Vitalkost, vegan und low carb. An einem Tisch mit zwei Damen, bitte sehr: Erstens die Angststörung, die sich Gespräche über Krankheiten verbat, zweitens die Herzklappenstenose, hört sich schlimmer an, als es ist (sagte sie), aber schwere Kindheit, Hunger nach dem Krieg, die Belgier hatten ihr Haus beschlagnahmt mit der Pistole im Anschlag, aber der Vater sagte:

„Nö!“

Am Ende durften sie im Anbau wohnen bleiben, mit Doppelstockbetten und Donnerbalken im Garten. Und als Dritter am Tisch, sozusagen der Tischherr: ich, hallo.

Dreimal täglich Tag trafen wir aufeinander, während der Mahlzeiten, dazwischen kriegten wir unsere Anwendungen: Leberwickel, Akupunktmassage, holotropes Atmen. Die Angststörung hatte zudem was mit den Augen, (wir hielten uns zurück), daher wohl diese Schirmmütze auf der Stirn im geschlossenen Raum, so was geht doch nicht, schon gar nicht in Hellgrün. Sobald das Gespräch irgendwie in die Nähe einer Krankheit kam, hob sich der Schirm und wir waren sofort mucksmäuschenstill. Aber sonst ganz nett. Dafür schenkten wir uns immer gegenseitig das Mineralwasser ein, Medium, blauer Drehverschluss:

„Stößchen!“

Die Herzklappe hatte von der Prostata gehört, dass man jeden Bissen mindestens vierzig Mal kauen sollte, wodurch diese mindestens 17 Pfund abgenommen habe (in Worten: siebzehn!). Sollten wir das nicht auch mal versuchen? Mit dem Kauen, nicht mit der Prostata.

(Lacher.)

Ehrlich gesagt, bin ich total zufrieden mit der Vitalkost, ich würde niemals in die Vollkost wechseln wollen, weil es im Vollkostsaal a) unglaublich laut, b) wie beim Plaza an der Fleischtheke zuging, das heißt: roch, was für echte Low-Carb-Veganer natürlich ein absolutes No-Go ist.

Vorgestern dann der erste Schuss vorn Bug. Wir saßen und löffelten wie jeden Morgen unsere Misosuppe mit Noritempura, ich erzählte gerade, wie ich in der Körpertherapie versuchte, mit einer posttraumatischen Belastungsstörung Rücken an Rücken zu sitzen, wobei diese irgendwie ihren Rücken nicht herausrücken wollte oder konnte. Dabei hatte ich zu ihr noch so zur Auflockerung und zum Eisbrechen gesagt:

„Ich hab meine Telefonnummer vergessen, verrätst du mir deine?“

War doch gut, oder? Die Herzklappe klemmte etwas, bis sie lachte. Aber die Angststörung schickte nur hellgrüne Blicke, nein, Blitze, herüber. Und dann ritt die Herzklappe der Deubel, sie ließ alle Vorsicht fahren und fing an, von ihren Krämpfen zu reden, die sie jede Nacht überfielen, von der rechten Wade ausgehend, wenn ich’s richtig behalten habe, schräg hinauf zu den Oberschenkeln. Sie noch:

„Die Krämpfe überfallen mich immer wie ein Tier.“

Gott, dachte ich mir, wenn ich jetzt nicht einschreite, schmiert uns die Angststörung völlig ab: Schirm schon auf knapp fünf vor zwölf und darunter rollten die Augen. Aber ich hatte noch ein Ass im Ärmel:

„Misosuppe ist lecker, was?“

„Ja, ja, ja“, sagte die Angststörung und tauchte ihren Löffel in die Suppe. Sofort sanken Schirm und Blutdruck wieder auf Normalnull.

Puh, gerade noch mal die Kurve gekriegt, dachte ich mir, es gibt nichts, was Misosuppe nicht kann. Darüber werde ich eines Tages mal eine Geschichte schreiben, nahm ich mir fest vor, aber erst mal schlürfte ich meine Misosuppe aus. Lecker! Schlürfen ist erlaubt, weil, das ist eine japanische Suppe.

Dann das nächste Mittagessen: Nudeln, Bolognaise mit Seitan, Zwiebeln und Champignons und geschmorten Chinakohl. Zum Nachtisch angedickter Apfelsaft. Also der ganz normale Wahnsinn der Vitalkost. Bevor es ans Büffet ging, las die Herzklappe ihren Laufzettel für den Nachmittag:

„Wirbelsäulengymnastik 14.20 Uhr. KG 16 Uhr. Was heißt eigentlich KG?“

O Gott, aus den Augenwinkeln sah ich, wie der grüne Schirm auf und nieder ging.

Mir rutschte eine „Kommanditgesellschaft“ raus, aber das fand keiner lustig, so schob ich die „Krankengymnastik“ nach.

„Krankengymnastik?“

Der Schirm erstarrte.

Herzklappe: „Nur schade, dass man die Krankengymnastik immer allein machen muss.“

Ich, zweiter Versuch: „Wieso? Da ist doch ein Gymnasiast bei.“

Kein Lacher. Dies war nicht mein Tag, isso, also vertiefte ich mich in die Nudeln.

Aber dann legte die Klappe los wie nix Gutes: „Meiner Freundin aus dem Gymnasium hatten sie gerade beide Brüste abgenommen.“

Upps, dachte ich noch bei mir, die redet uns ja um Kopf und Kragen.

Der Schirm wackelte.

O weh!

Er sprühte wieder grüne Blitze.

Da half nichts mehr, ich sagte mir:

„Du bist der Wolf. Also ran an die Großmutter!“

Und so begann ich zu erzählen:

„Misosuppe geht so: Man setze einen schweren Topf mit Wasser auf …“

Aber Herzklappe klapperte unbeirrt weiter: „Als ihr Mann sie besuchen wollte, ging er an einer Putzmaschine oder so vorbei, wo sich justamente ein Teil löste und ihm vor die Beine schlug.“

Ich schnell: „Dann wird das Gemüse geputzt, geschnibbelt und in Reihenfolge der Länge der Garzeit in den Topf gegeben, dazu rote Linsen oder gekochte Nierenbohnen …“

Aber unser Herzchen: „Und das Dingens haut dem Mann glatt die beiden Füße ab, mit einem sauberen Hieb, Zack!“

Ich dagegen: „Das vorgekochte Tofu wird in Stücke geschnitten, in Shoyu mariniert und in der Pfanne gebraten  …“

„Aber heute sieht man nichts von den abgeschlagenen Füßen, so gut sitzen die Prothesen, kein Unterschied, besser als vorher.“

„… Jetzt werden zwei Teelöffel Genmai- oder Mugimisopaste mit etwas Suppenstock verrührt…“

„Aber meine Schwägerin hatte größeres Pech.“

„… Misopaste wird in die Suppe eingerührt und dann kommt das Wichtigste…“

„Der wurde ein ganzes Bein abgefahren, von einem Laster im toten Winkel, die Prothese war viel schlimmer.“

„… am Schluss wird die Suppe im Ganzen noch mal richtig ins Wallen gebracht, aber Achtung: Sie darf auf keinem Fall kochen. Dann ist sie fertig: Guten Appetit!“

„Danke, ebenso“, sagte die Klappe, die mit ihrer Geschichte anscheinend auch fertig war.

„Was ist? Das waren Amputationen, keine Krankheiten.“

Und die Angststörung? Auf und davon, über alle sieben Berge und ward nie mehr gesehen. So ein Pech aber auch.

„Das Problem hat sich in Misosuppe aufgelöst“, sagte die Herzklappe und: „Give me five!“

Was blieb mir anderes übrig? Ich klatschte ab.

Und weiter? Die Bolognaise war allererste Sahne. Wieso die in der Vitalkost französisch heißt, keine Ahnung. Jedenfalls zogen wir unsere Lehren, saßen zu zweit am Tisch und kauten fortan jeden Bissen zweiundvierzig Mal, sodass die Pfunde purzelten, wie die Wackersteine in meinem Magen. Mit Koch- und Amputationsgeschichten verplemperten wir nicht weiter unsere Zeit. Bis eines Tages eine neue Dame an unseren Tisch platziert wurde: Darmentzündung.

„Da hilft nur Misosuppe“, sagte die Herzklappe. Ich leckte meine Lefzen.

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